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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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geschlummert hat, packt man es nicht einfach an der Schulter, rüttelt kräftig und brüllt ihm was ins Ohr.»
    «Gut. Lassen Sie sich Zeit. Davon haben Sie hier mehr als genug.»

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Kapitel 24 DEUTSCHLAND UND RUSSLAND 1945–1946
    Ich habe – ich hatte – eine besondere Beziehung zu Königsberg. Meine Mutter wurde in Königsberg geboren. Als ich klein war, verbrachten wir die Ferien dort in der Nähe, in einem Seebad namens Cranz. Das waren unsere schönsten Urlaube. Später fuhr ich mit meiner ersten Frau in die Flitterwochen dorthin, 1919. Königsberg war die Hauptstadt Ostpreußens, einem Landstrich mit dunklen Wäldern, klaren Seen und Sanddünen unter weißem Himmel. Deutschritter hatten hier eine schöne mittelalterliche Stadt erbaut, mit einer Burg, einer Kathedrale und sieben Brücken über den Pregel. Es gab sogar eine Universität, die 1544 gegründet worden war und an der dann später Immanuel Kant lehrte, der berühmteste Sohn der Stadt.
    Ich kehrte im Juni 1944 dorthin zurück. Als Teil der Heeresgruppe Nord, 132. Infanteriedivision. Meine Aufgabe war es, Informationen über die vorrückende Rote Armee zu sammeln. Was für Männer waren das? In welcher Verfassung waren sie? Wie gut ausgerüstet? Nachschublinien – das Übliche eben. Und die deutschen Zivilisten, die vor den anrückenden Russen aus ihren Heimatorten geflohen waren, berichteten, dass es sich um schwerbewaffnete, undisziplinierte, betrunkene Neandertaler handelte, die vergewaltigten, mordeten und verstümmelten. Offen gestanden hielt ich das für hysterischen Unsinn. Es gab reichlich Nazi-Propaganda, die in die gleiche Kerbe schlug, um zu verhindern, dass die Leute sich einfach ergaben. Also beschloss ich, mir selbst ein Bild zu machen.
    Das wurde schwieriger, als die Royal Air Force die Stadt Ende August in Schutt und Asche bombte. Und ich meine wirklich in Schutt und Asche. Sämtliche Brücken wurden zerstört. Sämtliche öffentlichen Gebäude. Es dauerte daher eine Weile, bis ich die Berichte über die Gräueltaten prüfen konnte. Und ich hatte keinerlei Zweifel mehr an ihrer Wahrheit, als unsere Truppen das deutsche Dorf Nemmersdorf, rund hundert Kilometer östlich von Königsberg, zurückeroberten.
    Ich hatte in der Ukraine viel Schreckliches gesehen. Und Nemmersdorf war ebenso furchtbar wie alles, was wir selbst angerichtet hatten. Frauen vergewaltigt und verstümmelt. Kinder zu Tode geknüppelt. Das ganze Dorf niedergemetzelt. Das musste man gesehen haben, um es zu glauben, und nun glaubte ich es und hätte mir gewünscht, es nicht gesehen zu haben. Ich schrieb meinen Bericht. Prompt lag er dem Propagandaministerium vor, das sogar Auszüge daraus im Radio sendete. Tja, das war das letzte Mal, dass sie unsere Lage wahrheitsgemäß darstellten. Was sie aus dem Bericht nicht verwendeten, war meine Schlussfolgerung: dass wir die Stadt über den Seeweg so schnell wie möglich evakuieren sollten. Das wäre machbar gewesen. Aber Hitler war dagegen. Unsere Wunderwaffen würden das Blatt wenden und den Krieg gewinnen. Wir sollten uns keine Sorgen machen. Und viele Leute glaubten daran.
    Das war im Oktober 44. Aber im Januar 45 war jedem schmerzlich klargeworden, dass es keine Wunderwaffen gab. Die Stadt war eingekesselt, genau wie Stalingrad. Mit dem einzigen Unterschied, dass außer den deutschen Soldaten auch über hunderttausend Zivilisten eingeschlossen waren. Wir fingen an, Menschen rauszuschaffen. Doch dabei kamen Tausende um. Neuntausend starben innerhalb von fünfzig Minuten, als ein russisches U-Boot die
Wilhelm Gustloff
versenkte, die aus Gotenhafen ausgelaufen war. Und wir kämpften weiter, nicht, um Hitlers Befehle auszuführen, sondern weil an jedem Tag, den wir kämpften, weiteren Zivilisten die Flucht gelang. Erwähnte ich schon, dass es der kälteste Winter seit Menschengedenken war? Tja, das machte die Lage nicht besser.
    Für kurze Zeit hörten der Artilleriebeschuss und die Bombardierungen auf, weil sich die Russen auf ihren letzten Angriff vorbereiteten. Als der dann am 6. April kam, standen wir mit hundertdreißigtausend Mann und fünfzig Panzern gegen etwa zweihundertfünfzigtausend Soldaten, fünfhundert Panzer und über zweitausend Flugzeuge. Ich hatte im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben gekämpft und dachte, ich wüsste, was es heißt, unter Beschuss zu liegen. Ich wusste es nicht. Das Granatfeuer dauerte Stunde um Stunde an. Manchmal waren zweihundertfünfzig Bomber gleichzeitig

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