Mission Walhalla
Psychopath.
Wenn man in Klingelhöfers zuckendes, bebrilltes Gesicht schaute, war schwer vorstellbar, dass der ehemalige Operntenor jemals wieder singen würde, außer vielleicht das Dies irae. Aber ich wollte mit ihm über Minsk sprechen, erfahren, was passiert war, nachdem ich von dort nach Berlin zurückgekehrt war.
«Erinnerst du dich an einen gewissen Paul Kestner?», fragte ich ihn.
«Ja», sagte Klingelhöfer. «Er gehörte einem Mordkommando in Smolensk an. 1941 wurde ich dorthin geschickt, um Pelze für die Winterkleidung der Wehrmacht zu besorgen. Kestner war vorher in Paris gewesen, glaube ich, und er war verbittert über seine Versetzung nach Russland. Er ließ seine Wut an den Juden aus, das war offensichtlich. Ein grausamer Mensch. Danach hörte ich, dass er ins Vernichtungslager Treblinka versetzt worden war. Das muss etwa im Juli 1942 gewesen sein. Soweit ich weiß, war er dort die rechte Hand des Lagerkommandanten. Es wurde gemunkelt, Kestner und Lagerkommandant Irmfried Eberl hätten ihre Position ausgenutzt, um jüdische Frauen zum Beischlaf zu zwingen und jüdisches Gold und Schmuck zu unterschlagen, Wertsachen, die eigentlich dem Reich zustanden. Jedenfalls, die Sache flog auf, und angeblich wurden die beiden und einige andere suspendiert. Der neue Kommandant, der den Saustall ausmisten sollte, hieß Stangl. Eberl und Kestner wurden aus der SS entlassen, und 1944 hörte ich, dass sie sich zur Wehrmacht gemeldet hatten, um sich zu rehabilitieren. Vor ein paar Jahren haben die Amis Eberl geschnappt, und ich glaube, er hat sich aufgehängt. Aber ich hab keine Ahnung, was aus Kestner geworden ist. Stangl soll angeblich in Südamerika sein.»
«Tja, falls das stimmt, ist er jedenfalls nicht in Argentinien», sagte ich. «Oder in Uruguay.»
«Du hast Glück», sagte Klingelhöfer. «Dass du so viel von der Welt gesehen hast. Ich dagegen werde wohl in Landsberg sterben.»
«Du bist bestimmt der einzige Häftling hier, der das glaubt, Walli. Alle anderen rechnen mit ihrer Begnadigung. Die haben schon Männer laufenlassen, die meiner Meinung nach Schlimmeres auf dem Kerbholz hatten als du.»
«Danke. Nett, dass du das sagst. Ich hoffe bloß, falls ich hier drin sterbe, übergeben die meine Leiche meiner Familie. Ich möchte nicht hier in Landsberg begraben liegen. Es wäre ihnen sehr wichtig. Ich erwarte nicht ernsthaft, dass ich hier noch rauskomme. Ich meine, was soll ich dann auch machen? Was sollen Menschen wie wir überhaupt machen?»
Ich verabschiedete mich und überließ Klingelhöfer seinen Selbstgesprächen. Das machte er viel in Landsberg. War wahrscheinlich angenehmer, als mit den Amerikanern zu sprechen. Oder mit Biberstein und Haensch. Oder mit Sandberger, der mich auf dem Weg zurück in meine Zelle abfing.
«Wieso reden Sie mit dem Schwein?», wollte er wissen.
«Wieso nicht? Ich rede ja auch mit Ihnen. Ehrlich, ich bin nicht besonders wählerisch.»
«Ich hab schon gehört, dass Sie ein Spaßvogel sind, Gunther.»
«Wieso lachen Sie dann nicht? Ach ja, Sie sind ja von Haus aus Jurist, soweit ich weiß. Und als Sie in Estland waren, ist vermutlich auch nicht viel gelacht worden.»
Sandberger hatte das Gesicht eines Schlägers: ein Kinn wie ein platter Reifen und die feindseligen Augen eines Boxers. Schwer vorstellbar, dass jemand mit so einem Gesicht Anwalt oder Richter hätte werden können. Da konnte man sich schon eher vorstellen, dass er fünfundsechzigtausend Juden ermordet hatte. Man musste kein Kriminologe sein, um aus einer Physiognomie wie dieser seine Schlüsse zu ziehen.
«Ich höre, die Amis haben Sie in die Mangel genommen», sagte er.
«Sie haben ja Ohren wie ein Luchs.»
«Ich habe mir erlaubt, Sie gegenüber dem evangelischen Bischof von Württemberg zu erwähnen», sagte er. «In meinem letzten Brief an ihn.»
«Solange es Gefängnisse gibt, gibt es Gebete.»
«Der Mann kann sehr viel mehr tun als bloß beten.»
«Über einen Kuchen würde ich mich freuen. Mit viel Sahne und Obst und einer Walther P38 als Füllung.»
Sandberger verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln, das in mir keine Zweifel an der Abstammung des Menschen aufkommen ließ.
«Er hilft keinem Häftling beim Ausbruch», sagte Sandberger. «Schreibt nur Briefe an einflussreiche Leute hier und in Amerika.»
«Ich möchte ihm keine Umstände machen», sagte ich. «Außerdem komme ich ja gerade aus Amerika, und da habe ich mir keineswegs Freunde gemacht.»
«Wo waren Sie denn?»
«In
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