Mission Walhalla
der Südhälfte. Argentinien, hauptsächlich. Argentinien würde Ihnen nicht gefallen, Sandberger. Sehr heiß. Viel Ungeziefer. Jede Menge Juden. Aber töten darf man nur das Ungeziefer.»
«Sind aber auch viele Deutsche da, hab ich gehört.»
«Nein, bloß Nazis.»
Sandberger grinste. Wahrscheinlich meinte er es gut, aber ich hatte das Gefühl, einer Ausgeburt an Atavismus gegenüberzustehen. Das Böse blitzte immer wieder flackernd auf wie eine kaputte Glühbirne.
«Tja», sagte er schmallippig. «Sagen Sie Bescheid, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann. Mein Vater ist ein Freund von Bundespräsident Heuss.»
«Und der holt Sie hier raus?» Ich versuchte, meine Verblüffung zu beherrschen. «Setzt sich für Ihre Begnadigung ein?»
«Ja.»
«Danke.» Ich trat den Weg in die Kantine an, ehe er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sehen konnte. Langsam gewann ich den Eindruck, als wollten in diesem neuen Deutschland nur Leute mit mir befreundet sein, die ich nicht leiden konnte.
Apropos: Meine amerikanischen Freunde, alle beide, warteten bereits in Zelle sieben, als ich nach dem Frühstück von einer Wache dorthin zurückgebracht wurde. Diesmal hatten sie ein kleines Tonbandgerät in einem Lederfutteral dabei. Das Mikrophon war nicht viel größer als ein Norelco-Rasierer. Der eine stopfte seine Pfeife mit Sir-Walter-Raleigh-Tabak, der andere nutzte mein Zellenfenster als Spiegel und rückte seine Fliege zurecht. Auf meinem Bett lag ein Stetson mit schmaler Krempe, und beide Männer rochen leicht nach Vaseline-Haarwasser.
«Fühlen Sie sich wie zu Hause», sagte ich.
«Danke, tun wir schon.»
«Aber falls Sie meine Singstimme aufnehmen wollen, muss ich Sie warnen. Ich hab schon einen Vertrag mit Parlophone.»
«Wir zeichnen nur zu unserem privaten Hörvergnügen auf», sagte der eine und paffte dabei Feuer in seinen Sir Walter Raleigh. «Außerhalb der Gefängnismauern wird niemand Ihre Stimme hören. Dieses Jahr Weihnachten jedenfalls noch nicht.»
«Jetzt kommen wir zum interessanten Teil», sagte der andere. «Erich Mielke. Endlich. Der Teil, der momentan von Belang für uns ist.» Er schaltete das Gerät ein, und die Spulen setzten sich in Bewegung. «Sagen Sie mal was, wegen der Lautstärke.»
«Was denn?»
«Irgendwas. Den Beginn eines Märchens vielleicht? Die Tradition der mündlichen Überlieferung wird in Deutschland doch nicht ausgestorben sein.»
«In Deutschland ist so ziemlich alles ausgestorben.»
Wenige Sekunden später hörte ich zum ersten Mal den Klang meiner eigenen Stimme vom Band. Gefiel mir nicht. Wahrscheinlich wegen des lakonischen Tonfalls. Ich war seit fünf Jahren nicht mehr in meiner Heimatstadt gewesen, aber ich klang noch immer so schroff wie ein Berliner Totengräber. Jetzt verstand ich, warum die Leute mich nicht besonders leiden konnten. Falls ich je einen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft leisten wollte, würde ich das ändern müssen. Vielleicht ein bisschen Unterricht in Sachen Höflichkeit und Charme nehmen.
«Stellen Sie sich vor, wir wären die Brüder Grimm», sagte der Ami, der seine Pfeife rauchte, «und sammeln Material für ein Märchen.»
«Die Brüder Grimm, das passt. Ich hab die Geschichten nie besonders gemocht. Besonders fies fand ich die über den Dorftrottel mit der Pfeife und der Fliege und seinen bösen Onkel Sam.»
«Also dann. Nach der Zeit in Paris kehrten Sie zurück nach Berlin.»
«Nicht für lange. Ich besorgte Renata eine Stelle im Adlon, was ich schwer bereue. Die Ärmste kam beim ersten Bombenangriff auf Berlin ums Leben. Im November 1943. Hätte sie mich bloß nie kennengelernt.»
«Und Heydrich?»
«Ach, der war schon ein Jahr früher getötet worden. Im Gegensatz zu Renata hatte er es allerdings nicht besser verdient. Aber das ist eine andere Geschichte.»
«Hat er Ihnen geglaubt? Dass Sie Mielke nicht gefunden hatten?»
«Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das wusste man bei Heydrich nie. Wir haben in seinem Büro darüber gesprochen, und ehe ich michs versah, hatte ich einen Marschbefehl in die Ukraine. Das hätte ich vielleicht persönlich genommen, wenn nicht praktisch alle denselben Befehl bekommen hätten.» Ich zuckte die Achseln. «Ich vermute, Ihre Freunde Silverman und Earp haben Ihnen das alles erzählt. Dann hielt ich mich eine Weile in Berlin auf, ehe es nach Prag ging. Das war im Sommer 1942. Jetzt muss ich überlegen. Ein Jahr später war ich für die Wehrmacht-Untersuchungsstelle in Smolensk. Als Oberleutnant.
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