Mission Walhalla
Schacht rausholt und Sie wieder zum Sortieren schickt. Ansonsten geht hier alles ganz normal seinen Gang, bis zu dem Tag, an dem Sie eine saubere Uniform und neue Stiefel bekommen und von hier weggebracht werden. Übrigens, welche Schuhgröße haben Sie?»
«Sechsundvierzig.»
«Das Körpergewicht eines Menschen kann drastisch schwanken, aber die Füße behalten immer dieselbe Größe. Also gut. Im Stiefelschaft wird eine Pistole versteckt sein. Ausweispapiere. Und ein Schlüssel für Ihre Handschellen. Wahrscheinlich werden Sie der junge NKWD -Leutnant und ein russischer
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auf der Reise begleiten. Aber Vorsicht. Die werden Sie nicht so ohne weiteres laufenlassen. Wer einen
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entkommen lässt, nimmt zur Strafe den Platz des Gefangenen im Arbeitslager ein. Durchaus möglich, dass Sie die Pistole benutzen und beide töten müssen. Aber das dürfte für Sie wohl kein Problem sein. Der Zug wird anders sein als die Gefangenentransporte, in denen Sie bisher untergebracht waren: Sie reisen in einem Abteil. Sobald der Zug abfährt, bitten Sie, zur Toilette gehen zu dürfen. Und wenn Sie wieder rauskommen, schießen Sie. Alles Weitere liegt bei Ihnen. Am besten wäre es, wenn Sie die Uniform von einem Ihrer Begleiter anziehen. Da Sie Russisch sprechen, müssten Sie darin gut zurechtkommen. Sie springen vom Zug und fliehen, natürlich Richtung Westen. Wenn man Sie schnappt, werde ich alles leugnen, also ersparen Sie mir bitte die Peinlichkeit. Sollte man Sie foltern, beschuldigen Sie Major Weltz. Den konnte ich ohnehin nie leiden.»
Mielkes Skrupellosigkeit entlockte mir ein Lächeln. «Es gibt da bloß ein Problem», sagte ich. «Die anderen
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. Meine Kameraden. Die werden denken, ich hätte die Seiten gewechselt.»
«Es sind Nazis, die meisten von ihnen jedenfalls. Kümmert es Sie wirklich, was die denken?»
«Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten. Aber seltsamerweise ja.»
«Die werden schon bald von Ihrer Flucht erfahren. So was spricht sich schnell rum. Erst recht, wenn der Major dafür büßen muss. Und dafür werde ich sorgen. Nur noch eins. Wenn Sie in der amerikanischen Zone sind, tun Sie mir doch bitte einen Gefallen. Gehen Sie zu einer Adresse in Berlin und geben Sie jemandem, den ich kenne, etwas Geld.»
«Ich möchte es mir zwar nicht zur Gewohnheit machen, Ihnen zu helfen, Erich. Aber in Ordnung.»
Wie viel von dem, was Erich Mielke mir erzählte, der Wahrheit entsprach, war nebensächlich. Mit einem hatte er natürlich recht: Wenn ich im Lager Johanngeorgenstadt blieb, würde ich wahrscheinlich sterben. Zum Zeitpunkt, als er mir die Fluchtmöglichkeit anbot, war ich ohnehin kurz davor gewesen, das Handtuch zu werfen und zum K5 zu gehen, in der Hoffnung, dass sich irgendwann viel später, wenn ich ein guter Kommunist geworden wäre, eine Gelegenheit zur Flucht ergeben könnte.
Kurz nach meinem Gespräch mit Mielke wurde ich, wie er versprochen hatte, wieder zum Steinesortieren versetzt. Das erregte bei meinen Mitgefangenen den Argwohn, ich hätte mich einverstanden erklärt, mit den deutschen Kommunisten zu kollaborieren, und ich wurde von General Klause und seinem Adjutanten, einem SS -Sturmbannführer namens Dunst, regelrecht ins Verhör genommen. Aber sie schienen mir zu glauben, als ich ihnen versicherte, dass ich Deutschland weiterhin «die Treue hielt», was immer das auch hieß. Und je mehr Tage vergingen, desto mehr verflüchtigte sich ihre Skepsis. Ich hatte keinen Schimmer, wann ich ins Büro zitiert werden würde, um meine saubere Uniform und die alles entscheidenden Stiefel in Empfang zu nehmen, und als noch mehr Zeit ins Land gezogen war, fragte ich mich, ob Mielke mich getäuscht hatte oder sogar selbst verhaftet worden war. Dann, an einem kalten Frühlingstag, wurde ich zum Duschen geschickt, woraufhin ich eine andere Uniform erhielt. Sie war zu heiß gewaschen und von sämtlichen Rangabzeichen und sonstigen Insignien befreit worden, doch nach meinen dreckigen Klamotten fühlte sie sich an wie eine Maßarbeit von Holters. Der
pleni
, der sie mir gab, war ein
besprisorni
, ein Waisenjunge, der im sowjetischen Arbeitslagersystem aufgewachsen und von den Blauen als zuverlässiger Gefangener betrachtet wurde, der nicht beaufsichtigt werden musste. Er reichte mir meine Stiefel, die aus ziemlich gutem weichem Leder waren, und stand dann für mich Schmiere.
Es steckten Rubel darin und in einem adressierten Umschlag mehrere hundert Dollar. Die Papiere bestanden
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