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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Augenblick vom Lutetia nach links abgebogen wäre und den Boulevard Raspail überquert hätte, um mich im Cherche-Midi zu besuchen. Das Cherche-Midi war nämlich kein Gefängnis mehr, sondern ein Gericht, und so wie viele andere Leute in Paris – vor allem Journalisten – hätte sie einfach hineinspazieren können, um sich den Prozess gegen Carl Oberg und Helmut Knochen anzusehen. Und sie hätte auch mich dort gesehen, denn meine Gastgeber vom SDECE  – dem französischen Spionageabwehrdienst – wollten mir demonstrieren, dass sie mit mir – genau wie mit Dreyfus, der ebenfalls im Cherche-Midi inhaftiert war – machen konnten, was sie wollten, jetzt, da ich ihnen ausgeliefert worden war.
    Dabei empfand ich den Gewahrsam in Paris nicht als übermäßig hart. Nicht nach allem, was ich zuvor gesehen hatte. Nicht nach Mainz und der französischen Sûreté. Die waren ein bisschen grob gewesen. Und sicher, das Gefängnis La Santé, in dem ich derzeit einsaß, war auch nicht direkt das Lutetia, aber der SDECE war gar nicht so übel. Wahrscheinlich nicht so schlimm wie die CIA und ganz bestimmt nicht so schlimm wie die Russen. Außerdem war das Essen im La Santé gut und der Kaffee erst recht; es gab reichlich gute Zigaretten, und die meisten Verhöre in der Caserne des Tourelles – im Volksmund «Schwimmbad» genannt – wurden in angenehmer Atmosphäre geführt, häufig mit einer Flasche Wein und Brot und Käse. Manchmal gaben die Franzosen mir sogar eine Zeitung, die ich mit zurück ins La Santé nehmen durfte. Dergleichen hatte ich gewiss nicht erwartet, als ich das WCP No. 1 in Landsberg verließ. Mein Französisch verbesserte sich mit der Zeit, sodass ich nicht nur verstehen konnte, was in den Zeitungen stand, sondern auch ein wenig dem Prozess folgen konnte, als ich zum Gericht gebracht wurde. Es war der Tag, an dem das Militärgericht die Urteile und das Strafmaß verkündete, was bestimmt kein Zufall war. Aber ich konnte es meinen Gastgebern vom französischen Geheimdienst kaum verdenken.
    Wir saßen im Zuschauerbereich, der voll besetzt war. Ein Zivilrichter, M. Boessel du Bourg, und sechs Militärrichter betraten den Saal und nahmen vor einer großen Schiefertafel ihre Plätze ein, sodass ich schon dachte, sie würden die Urteile mit Kreide an die Tafel schreiben. Der Zivilrichter trug eine Robe und eine ungemein affige Mütze. Die Militärrichter waren alle mit einem Haufen Orden dekoriert, obwohl mir schleierhaft war, wofür sie die wohl bekommen hatten. Dann wurden die beiden Angeklagten hereingeführt. Ich kannte Oberg bisher nur aus deutschen Wochenschauen während des Krieges. Er trug einen eleganten zweireihigen Nadelstreifenanzug und eine Brille mit hellem Gestell. Er sah aus wie Eisenhowers älterer Bruder. Knochen war dünner und grauer, als ich ihn in Erinnerung hatte: Das macht das Gefängnis aus einem, erst recht, wenn die Briten einem die Todesstrafe verpassen wollen. Knochen blickte mir ins Gesicht, ließ sich aber nicht anmerken, dass er mich erkannte. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, ihn laut als elenden Lügner zu beschimpfen, aber das ließ ich natürlich schön bleiben. Es gehört sich nicht, jemanden, dessen Leben am seidenen Faden hängt, mit Lappalien zu behelligen.
    M. Boessel du Bourg verlas die ausführliche Urteilsbegründung und verhängte dann erwartungsgemäß die Todesstrafe. Wie auf Stichwort ließen etliche Leute im Saal eine Schimpfkanonade auf die Angeklagten los, und zu meiner Überraschung taten mir die beiden beinahe leid. Das einst mächtigste Männergespann von Paris wirkte jetzt wie zwei Volksschüler, denen mitgeteilt wird, dass sie eine wichtige Klassenarbeit verhauen haben. Oberg blinzelte ungläubig. Knochen stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Und im anschwellenden Lärm aus Beleidigungen und Jubel um mich herum wurden die beiden Deutschen aus dem Saal geführt. Einer aus meiner SDECE -Eskorte beugte sich zu mir und sagte: «Die legen natürlich Berufung ein.»
    «Bestimmt. Aber ich habe trotzdem verstanden, warum ich hier bin», sagte ich. «Und Voltaires Beispiel macht mir Mut.»
    «Sie haben Voltaire gelesen?»
    «Nicht direkt, nein. Würde ich aber gern. Erst recht, wenn man die Alternative bedenkt.»
    «Die wäre?»
    «Es ist schwierig, irgendwas zu lesen, wenn dein Kopf in einem Korb liegt», sagte ich.
    «Alle Deutschen mögen Voltaire, nicht? Friedrich der Große war ein guter Freund von Voltaire, nicht wahr?»
    «Ich glaube ja.

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