Mission Walhalla
und nicht ein Zug mit SS -Leuten und Wehrmachtsoldaten, von denen keiner mehr damit gerechnet hatte, je wieder aus russischer Gefangenschaft freizukommen; und die weder eine Ahnung davon hatten, dass Deutschland Weltmeister geworden war, noch, dass Konrad Adenauer, der frühere Bürgermeister von Köln, dem sie ihre Freiheit verdankten, inzwischen Kanzler einer neuen deutschen Republik war, der Bundesrepublik Deutschland. Einige Männer aus der Gegend wollten den Heimkehrern wohl unbedingt vor Augen führen, welch entscheidende Rolle der Kanzler bei ihrer Freilassung gespielt hatte, denn sie hielten ein Schild in die Höhe mit der Aufschrift: WIR DANKEN IHNEN, DOKTOR ADENAUER . Dem war nicht zu widersprechen, auch wenn ich manchmal den Eindruck hatte, dass Doktor Adenauer fest entschlossen war, der nächste ungekrönte König von Deutschland zu werden.
Andere Schilder waren persönlicher, geradezu anrührend. Mehr als ein Dutzend Männer und Frauen trugen Schilder mit genauen Beschreibungen ihrer vermissten Angehörigen. Ein typisches Beispiel war das in den Händen einer alten bebrillten Dame, die mich an meine verstorbene Mutter erinnerte: WER KENNT DIESEN MANN ? UNTERSTURMFÜHRER RUDOLF KNABE . 9. SS - PANZERDIVISION « HOHENSTAUFEN » (1942) & 2. SS - PANZERKORPS (1943). VERMISST SEIT KURSK , JULI 1943.
Ich fragte mich, wie viel sie von den Ereignissen in Kursk wusste. Ob ihr bekannt war, dass dort die größte und blutigste Panzerschlacht der Geschichte stattgefunden hatte, die wahrscheinlich den Anfang vom Ende der deutschen Armee eingeläutet hatte?
Andere, vielleicht weniger optimistische Leute hielten kleine Kerzen oder Grubenlampen, als wollten sie damit derjenigen gedenken, die nie mehr zurückkommen würden.
Auf dem eigentlichen Bahnsteig standen alle, die in offiziellerer Funktion da waren, wie ich, Grottsch, Vigée und Wenger. Vertreter des VdH und anderer Veteranenorganisationen, Polizisten, Kirchenmänner, Rotkreuzfreiwillige, britische Soldaten und ein großes Aufgebot an Krankenschwestern, von denen einige eine erfreuliche Abwechslung für mein gelangweiltes Auge darstellten. Alle spähten das Gleis hinunter Richtung Reckershausen und noch weiter, Richtung DDR .
«Na, na», sagte Vigée, der mein Interesse an den Krankenschwestern bemerkte. «Sie sind so gut wie unter der Haube.»
«Krankenschwestern haben irgendwas an sich, das ich schon immer faszinierend fand. Früher dachte ich, es wäre die Uniform, aber heute, ich weiß nicht. Vielleicht habe ich bloß Mitgefühl für all jene, die anderer Leute Drecksarbeit erledigen müssen.»
«Ist das so dreckig? Jemandem zu helfen, der Hilfe braucht?»
Ich warf einen Blick auf den deutschen Polizisten, den Vigée mitgebracht hatte, damit de Boudel, so ich ihn denn identifizierte, auf der Stelle festgenommen und dann nach Frankreich ausgeliefert werden konnte.
«Schon gut», knurrte ich. «Ich hab eben noch nie jemanden verpfiffen, mehr nicht. Ich schätze, irgendwas daran behagt mir nicht. Wer weiß?» Ich schob mir einen neuen Streifen Kaugummi in den Mund. «Wenn ich den Burschen entdecke, was soll ich dann überhaupt machen? Ihn auf die Wange küssen?»
«Geben Sie uns einfach ein Zeichen, wer es ist», sagte Vigée geduldig. «Der Polizeikommissar erledigt dann den Rest.»
«Wieso so zimperlich, Gunther?», fragte Grottsch. «Ich dachte, Sie waren auch mal Polizist.»
«Ich war Polizist, stimmt», sagte ich. «Vor einer Ewigkeit. Aber einen Kameraden festzunehmen ist nun mal was ganz anderes, als einen alten Gauner dingfest zu machen.»
«Ein interessanter Unterschied, den Sie da machen», sagte der Franzose. «Aber der Vergleich hinkt. Von einem Kameraden, der seine Seele an die andere Seite verkauft, ist schließlich nicht viel zu halten.»
Lauter Jubel brach auf dem Bahnsteig aus, als wir in der Ferne das Pfeifen einer näher kommenden Dampflok hörten.
Vigée ballte die Faust und spannte aufgeregt seinen Bizeps an.
«Wer hat Ihnen eigentlich den Tipp gegeben?», fragte ich. «Dass de Boudel in dem Zug sein soll?»
«Der britische Geheimdienst.»
«Und woher wissen die das?»
Der Zug kam in Sicht, eine glänzende schwarze Lok, in grauen Rauch und weißen Dampf gehüllt, als käme sie direkt aus der Hölle. Es waren keine Viehwaggons zu sehen, wie es für einen russischen Kriegsgefangenentransport typisch gewesen wäre, sondern Passagierwagen, was bedeutete, dass die Gefangenen vor der deutschen Grenze in einen deutschen Zug
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