Mission Walhalla
umgestiegen waren. Männer lehnten bereits aus offenen Fenstern, winkten den Leuten entlang des Gleises zu oder fingen Blumensträuße auf, die ihnen zugeworfen wurden.
Der Zug pfiff erneut und hielt im Bahnhof, und Männer in geflickten und verschlissenen Uniformen streckten die Hände nach draußen, um unter allgemeinem Jubelgeschrei den einen oder anderen Menschen auf dem Bahnsteig zu berühren. Die Russen hatten im Vorfeld keine Angaben zur Identität der Kriegsgefangenen im Zug gemacht, daher mussten die Passagiere sich vor dem Aussteigen gedulden, bis Rotkreuzmitarbeiter durch die Wagen gegangen und alle Namen aufgenommen hatten, damit Polizei, Grenzdurchgangslager und VdH Bescheid wussten. Erst als nach einer halben Stunde alles erledigt war, durften die Männer aussteigen. Eine Trompete erschallte, und einen Moment lang kam es mir vor, als wäre wahrhaftig die Stunde gekommen, da die Toten aus ihren Gräbern auferstanden. Und als die Männer in ihrem abgewetzten Feldgrau aus dem Zug stiegen, sahen sie tatsächlich eher tot aus als lebendig, so mager waren ihre Körper, so zahnlückig ihr Lächeln, so weiß ihr Haar und so fahl ihre wettergegerbten Gesichter. Manche waren verdreckt und hatten keine Schuhe an den Füßen. Andere blickten verdutzt, als könnten sie es nicht fassen, an einem Ort zu sein, an dem sie keine Brutalität erwartete und sie nicht hinter einen Stacheldrahtzaun gesperrt wurden, von leerer Steppe umgeben. Nicht wenige mussten auf Tragen aus dem Zug geholt werden. Ein gewaltiger Gestank nach ungewaschenen Körpern erfüllte die saubere Luft Friedlands, doch das schien kaum einer zu merken. Alle lächelten. Sogar ein paar von den Kriegsgefangenen, doch die meisten weinten wie entführte Kinder, die viele Jahre in einem dunklen Wald zugebracht hatten und nun in den Schoß ihrer betagten Eltern zurückkehrten.
D. W. Griffith oder Cecil B. DeMille hätten die ergriffene Menschenmasse nicht bewegender in Szene setzen können; bei dem, was sich hier auf dem Bahnsteig einer deutschen Kleinstadt abspielte, schien selbst Vigée den Tränen nahe. Unterdessen stimmte die Blaskapelle das
Deutschlandlied
an – woraufhin einige verstört wirkende Heimkehrer die inzwischen verbotene erste Strophe zu singen begannen –, und jenseits der Wiesen läuteten im zwei Kilometer entfernten Groß Schneen die Kirchenglocken.
Ich hörte, wie einer von den Kriegsgefangenen erzählte, sie hätten erst am Tag zuvor von ihrer Freilassung erfahren.
«Diese Männer sehen aus, als kämen sie aus der Hölle», sagte Vigée.
«Dort, wo sie hergekommen sind, ist es schlimmer», entgegnete ich.
Ich hielt die Augen offen, doch ich wusste, dass es kaum möglich war, de Boudel in dem Gewühl auf dem Bahnsteig zu entdecken. Auch Vigée wusste das. Er hoffte, dass wir mehr Glück hätten, wenn die Kriegsgefangenen am nächsten Morgen im Lager wären. Wie es aussah, würde ich meinen Auftritt in Le Vernet wiederholen und mir die Männer aus nächster Nähe ansehen müssen. Ich war nicht scharf darauf und klammerte mich an die unrealistische Hoffnung, dass wir de Boudel doch noch im Bahnhof entdeckten: dass ich ihn sah, ehe einer meiner alten Kameraden auf mich aufmerksam wurde. Obwohl ich mir nicht viel davon versprach, durchquerte ich die Bahnhofshalle und stieg eine Treppe hinauf in den oberen Stock, um mir vom Fenster aus einen besseren Blick über die jubelnde Masse zu verschaffen. Vigée folgte mir, dann auch Grottsch, Wenger und der Kripobeamte.
Seit dem Arbeitslager in Johanngeorgenstadt hatte ich nicht mehr so viele Uniformen gesehen. Von oben sahen sie aus wie ein bewegtes graues Meer. Der Bürgermeister von Friedland, angetan mit seiner Amtskette, flitzte nervös unter den Heimkehrern umher wie der Bürgermeister von Hameln inmitten von Ratten und Mäusen und schenkte Schnaps aus einer großen, irdenen Flasche aus. Ich konnte hören, wie er aus vollem Halse «Prost» und «Auf eure Freiheit» und «Willkommen in der Heimat» rief. Neben ihm stand ein stattlicher Wehrmachtsfeldwebel, der eine alte Frau in den Armen hielt; beide weinten hemmungslos. Seine Frau? Seine Mutter? Es war schwer zu sagen, weil das Gesicht des Feldwebels keine Spur von jugendlicher Energie mehr zeigte. Alle sahen sie alt aus, uralt. Es war kaum zu glauben, dass diese Männer die gleichen waren, die als stolze Sturmtruppen Hitlers wahnsinniges Unternehmen Barbarossa ins tiefste Russland getragen hatten.
Neben mir stand eine Frau, die
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