Mission Walhalla
verließ, sah ich sie gerade die Treppe zum Bahnsteig hochrennen. Ich hätte ihnen vielleicht sogar zugelächelt, wenn das, was ich tat, nicht eine ernste Sache und entscheidend für meine Zukunft gewesen wäre.
Ich setzte mich und blickte geradeaus zum Fenster hinaus. Vor langer Zeit hatte ich in der Polizeiausbildung gelernt, wie man einen Mann unauffällig verfolgte, und alles war schlagartig wieder da. In erster Linie kam es darauf an, auf Abstand zu bleiben und die Person permanent zu beschatten, egal ob sie sich vor dir, hinter dir oder, wie jetzt, im angrenzenden S-Bahn-Wagen befand. Ich konnte ihn durch die Verbindungstür sehen, wie er dasaß und seine Zeitung las. Das erleichterte die Sache natürlich für mich. Ich wusste, dass ich alles im Griff hatte, und fand die Vorstellung der unruhigen Amis umso amüsanter. Scheuer konnte ich ja noch so einigermaßen leiden, nicht jedoch Hamer und Frei. Hamer fand ich besonders unausstehlich, weil er arrogant war und aus seiner ausgeprägten Abneigung gegen Deutsche keinen Hehl machte. Na, damit stand er nicht alleine da. Aber es ärgerte mich trotzdem.
Ohne den Kopf zu bewegen, ließ ich die Augen durchs Abteil schweifen, wie eine Bauchrednerpuppe. Wir fuhren in den Bahnhof Zoo ein, und ich beobachtete die Zeitung im nächsten Wagen, um zu sehen, ob sie zusammengefaltet wurde, doch sie blieb auch noch die Bahnhöfe Tiergarten und Bellevue hindurch, wie sie war. Am Lehrter Bahnhof schließlich senkte sie sich, und der Leser stand auf, um auszusteigen.
Er stieg die Treppe hinunter und ging Richtung Invalidenstraße. Auf der anderen Seite des Hafenbeckens lagen die Charité und der russische Sektor. In einiger Entfernung wurde der Grenzübergang Invalidenstraße von ostdeutschen, vielleicht russischen Soldaten bewacht. Wir überquerten die Invalidenstraße und folgten dann der Heidestraße, bis wir in den französischen Sektor kamen, und von dort nach rechts in die Fennstraße. An der Ecke Müllerstraße blieb ich kurz stehen und blickte auf den dreieckigen Weddingplatz, wo die nach ihrer Zerstörung abgetragene Dankeskirche gestanden hatte, in der meine erste Frau und ich getraut worden waren. Der Weddingplatz wirkte ziemlich ausgestorben. Die Franzosen, die fast so pleite waren wie die Briten, hatten wenig Geld übrig, um das deutsche Geschäftsleben in der Gegend anzukurbeln, geschweige denn für den Wiederaufbau einer Kirche, die von ihrem alten Todfeind Kaiser Wilhelm I. gestiftet worden war, aus Dank, weil er 1878 ein Attentat überlebt hatte.
Als ich weiterging, sah ich im allerletzten Moment, wie mein Mann in der Schulzendorfer Straße in einem hohen Gebäude mit Blick auf die stillgelegte Brauerei verschwand. Ich näherte mich dem Haus und blickte die Chausseestraße hinunter Richtung Grenzübergang, der ganz in der Nähe liegen musste, wahrscheinlich genau auf der anderen Seite der Mauer des Brauereigeländes. Ich überflog die Namen auf den Messingklingelschildern. Bei Erich Stahl blieb ich hängen und entschied, dass das nach einem Decknamen für Erich Stellmacher klang; jetzt konnte unsere Geheimoperation beginnen.
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Kapitel 38 BERLIN 1954
Wir bezogen ein kleines und ziemlich schäbiges Haus auf der Dreysestraße, unweit vom Krankenhaus Moabit, im britischen Sektor. Scheuer meinte, näher könnten wir im Augenblick nicht an Stellmachers Wohnung ran, ohne dass die Russen oder auch die Franzosen etwas von uns mitkriegten. Den Briten erzählten wir, wir würden einen mutmaßlichen Schwarzhändler überwachen.
Der Plan war denkbar einfach: Ich, als Berliner, würde mich unter dem Mädchennamen meiner Frau an den Besitzer des Hauses auf der Schulzendorfer Straße wenden, in dem zum Glück einige Wohnungen leer standen, und fragen, ob er vielleicht auch eine möblierte Wohnung zu vermieten hätte. Wir hatten wieder Glück. Der Eigentümer, ein Anwalt im Ruhestand aus Wilmersdorf, zeigte mir eine Wohnung, die er selbst eingerichtet hatte, und sie war in einem deutlich besseren Zustand, als der äußere Eindruck des Hauses hatte vermuten lassen. Er erzählte, dass das Haus seiner Frau Martha gehört hatte, die sich auch um die Verwaltung gekümmert hatte, aber leider im Jahr zuvor von einer Bombe getötet worden war, als sie das Grab ihrer Mutter auf dem Friedhof in Oranienburg besuchte.
«Die haben gesagt, dass sie nichts gespürt hat», sagte Herr Schurz. «Eine amerikanische Fliegerbombe, fünf Zentner schwer, hatte fast zehn
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