Mission Walhalla
gebeugt, mit seinen Zigaretten und Zigarren und seinem Wildwest-Schnurrbart. Großherzig, wie er war, gab er Tipps oder spielte für Interessierte Schaupartien, und an seinem letzten Tag im Romanischen Café – er ging zunächst nach Moskau und schließlich nach New York – schenkte Lasker jedem, der da war, zum Abschied eine Figur vom schönsten Schachspiel im Café. Ich bekam den schwarzen Springer. So, wie das Schicksal mir im Laufe der Jahre mitgespielt hatte, denke ich manchmal, ein schwarzer Bauer wäre passender gewesen. Andererseits schien mir ein Springer, selbst ein kaputter, kostbarer als ein Bauer, und wahrscheinlich gab ich mir deshalb so viel Mühe, ihn durch alle Katastrophen hinweg zu retten. Der kleine Fuß aus Knochen hatte sich während der Schlacht um Königsberg gelöst und war kurz danach verloren gegangen. Aber der Pferdekopf war irgendwie in meinem Besitz geblieben. Ich hätte ihn als meinen Glücksbringer bezeichnet, wenn mir das Glück öfter hold gewesen wäre. Andererseits war ich noch immer im Spiel, und mehr Glück kann man manchmal nicht verlangen. Alles – wirklich alles – kann passieren, solange man im Spiel bleibt. Und in letzter Zeit nahm ich den kleinen schwarzen Springerkopf häufig in die Hand, als wollte ich ihn daran erinnern, mir Glück zu bringen, so wie ein Mohammedaner seine Gebetsperlen benutzt, um die neunundneunzig Namen Allahs aufzuzählen und Ihm im Gebet näherzukommen. Aber Gott interessierte mich gar nicht, mir schwebte etwas Irdischeres vor. Freiheit. Unabhängigkeit. Selbstachtung. Nicht länger eine Schachfigur zu sein, in einem Spiel, das nicht meins war. Das war doch wohl nicht zu viel verlangt.
Der Flug von Frankfurt nach Berlin dauerte keine Stunde. In der DC -7 reisten Scheuer, Frei und ein dritter Mann mit – der Typ mit dem dicken Brillengestell, der mich in Göttingen entführt hatte. Sein Name war Hamer. Vor dem Flughafen Tempelhof wartete ein schwarzer Mercedes auf uns. Als wir losfuhren, deutete Scheuer auf die Skulptur, die zur Erinnerung an die Berliner Luftbrücke von 1948 bis 1949 auf dem Platz der Luftbrücke errichtet worden war. Die drei Streben des zwanzig Meter hohen, aus Beton gefertigten Denkmals sollten die drei Luftkorridore versinnbildlichen, über die die Westalliierten während der Berlin-Blockade die Stadt mit allem Lebensnotwendigen versorgt hatten. Die Skulptur sah jedoch eher aus wie ein Comic-Gespenst, das sich mit erhobenen Armen vorbeugte, um Leute zu erschrecken. Und als ich einen Blick zurück auf den Flughafen warf, blieben meine Augen am Reichsadler hängen, der am Flughafengebäude prangte. Keine Frage: Der Adler war amerikanisiert worden. Irgendwer hatte seinen Kopf weiß angemalt, sodass er jetzt dem Wappenvogel der USA ähnelte.
Wir fuhren durch den amerikanischen Sektor, wo alles sauber und wohlhabend aussah, mit reichlich Schaufenstern und grellbunten neuen Kinos, in denen die neuesten Hollywoodfilme liefen:
Das Fenster zum Hof, Die Faust im Nacken
und
Bei Anruf Mord
. Die Ihnestraße, nicht weit vom neuen Henry-Ford-Bau der Freien Universität, sah noch so aus wie vor dem Krieg. Jede Menge Kastanienbäume und gepflegte Gärten. Nur die amerikanischen Fahnen waren natürlich neu. Eine große flatterte am Fahnenmast vor dem amerikanischen Offiziersklub im Harnack-Haus, dem ehemaligen Gästehaus der berühmten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Scheuer erzählte mir stolz, dass es in dem Klub ein Restaurant, einen Kosmetiksalon, einen Friseur und einen Zeitungsladen gab, und versprach, mal mit mir hinzugehen. Dabei hatte ich das Gefühl, dass dem Kaiser das nicht gefallen hätte: Er hatte die Amerikaner nie besonders leiden können.
Wir quartierten uns in einer Villa ein, die ein Stück vom Klub entfernt in der Ihnestraße lag. Von meinem Mansardenfenster aus blickte ich auf einen kleinen See. Das Einzige, was zu hören war, waren die Vögel in den Bäumen und die Fahrradglocken von Studenten der FU , kleine Kuriere der Hoffnung für diese Stadt, die es mir so schwer machte, sie erneut zu lieben – obwohl mir Zimmerservice in Gestalt eines unterwürfigen Dieners in weißer Kellnerjacke zur Verfügung stand, der sich erbot, mir Kaffee und einen Donut zu bringen. Ich lehnte beides ab und bat um eine Flasche Schnaps und Zigaretten. Unangenehm war die Musik: Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang die Honigstimme einer Sängerin, die mich vom Speisesaal, durch die Halle und in die Bibliothek verfolgte. Sie war
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