Mission Walhalla
Rücktransport nach Berlin abwarten sollte.
Das ehemals polnische Baranawitschy, das die Russen zu Beginn des Krieges besetzt hatten, war eine blühende Kleinstadt mit rund dreißigtausend Einwohnern, von denen über ein Drittel Juden waren. Das Zentrum bestand aus einer langen, breiten verschlafenen Allee mit zweigeschossigen Geschäften und Wohnhäusern, die die deutsche Besatzungsarmee in Kaiser-Wilhelm-Straße umbenannt hatte. Es gab eine jüngst im neoklassizistischen Stil erbaute orthodoxe Kathedrale und ein Ghetto – sechs Gebäude am Stadtrand, in denen über zwölftausend Juden eingepfercht waren, die Juden, die nicht rechtzeitig in die Pripjetsümpfe geflohen waren. Zwei ganze Regimenter der SS -Kavalleriebrigade unter dem Kommando von Sturmbannführer Franz Magill durchkämmten das achtunddreißigtausend Morgen große Sumpfgebiet und töteten jeden Juden, der ihnen zwischen die Finger kam. Dadurch war die Stadt ziemlich ruhig, so ruhig, dass ich ein paar Tage lang in einem ordentlichen Bett in dem ehemaligen Lederwaren- und Schuhgeschäft von Girsch Bregman schlafen konnte, bis ein Platz in einer Ju 52 nach Berlin-Tegel frei wurde.
Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was aus Girsch Bregman und seiner Familie geworden war; in dem kleinen Wohnzimmer hinter dem Laden standen auf einem Klavier von Rheinberg & Söhne noch immer ihre gerahmten Fotografien. Aber ich stellte mir automatisch vor, wie sie im beengten Ghetto Not litten oder vielleicht auf der Flucht vor ihren Verfolgern waren, zu denen neben der SS auch die polnische Polizei, ehemalige polnische Soldaten und sogar einige ukrainische Geistliche gehörten, die die «Pazifizierungen» nur allzu gern absegneten. Natürlich war es ebenso gut möglich, dass die Bregmans bereits pazifiziert waren, anders ausgedrückt: dass sie tot waren. Denn im Sommer 1941 war das der einzige wirkliche Friede, den es gab. Trotzdem hoffte ich, dass sie noch lebten, auch wenn ihre Überlebenschancen in etwa so hoch waren wie die eines Kanarienvogels in einem Bergwerk voller Grubengas. Ich selbst hätte nichts gegen ein bisschen Gas einzuwenden gehabt. Gerade genug, um etwa hundert Jahre lang durchzuschlafen und dann aus diesem Albtraum zu erwachen, zu dem mein Leben geworden war.
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Kapitel 8 DEUTSCHLAND 1954
«Einige sind nach Gas nie wieder aufgewacht», sagte Silverman. «So circa sechs Millionen Menschen.»
«Sie sind ein ulkiger Bursche. Sind Sie immer so schnell im Kopfrechnen, oder gefällt Ihnen nur diese eine Zahl so besonders?»
«An der Zahl gefällt mir gar nichts, Gunther», sagte Silverman.
«Mir auch nicht. Und wenn Sie das Gegenteil annehmen, dann begehen Sie einen großen Fehler.»
«Nicht ich bin hier derjenige, der Fehler macht, Gunther. Sondern Sie.»
«Sie haben recht. Ich hätte dafür sorgen sollen, 1896 woanders zur Welt zu kommen als in Deutschland. Dann wäre ich vielleicht auch mal auf der Siegerseite gewesen. Zweimal sogar. Was ist das für ein Gefühl, Jungs? Über die Fehler eines anderen zu richten? Bestimmt ein ziemlich gutes. So, wie ihr zwei euch benehmt, könnte man glatt meinen, ihr Amerikaner glaubt tatsächlich, ihr seid besser als der Rest der Welt.»
«Nicht der ganze Rest der Welt», knurrte Earp. «Bloß besser als Sie und Ihre Nazi-Freunde.»
«Reden Sie sich das ruhig weiter ein, wenn’s Ihnen Spaß macht. Aber dadurch wird es nicht wahrer. Ihr Amis sitzt so gern auf dem hohen Ross der Moral, da meint man fast, das sei bei euch verfassungsmäßig vorgeschrieben. Aber ich habe den Verdacht, dass ihr hinter eurer Scheinheiligkeit nicht besser seid als wir. Ihr glaubt mit voller Überzeugung an das Recht des Stärkeren.»
«In diesem Moment», sagte Silverman, «zählt nur, ob wir Ihnen glauben oder nicht.»
«Er ist der geborene Erzähler», sagte Earp an Silverman gewandt. «Ein richtiger Jakob Grimm ist er. Fehlte nur ‹Es war einmal› und das mit dem ‹und wenn sie nicht gestorben sind›. Wir sollten ihm ein paar glühende Eisenschuhe anziehen und ihn durchs Zimmer tanzen lassen wie Schneewittchens Schwiegermutter, bis er mit der Wahrheit rausrückt.»
«Stimmt genau», sagte Silverman. «Und wissen Sie was? Nur ein Deutscher konnte sich so eine Strafe einfallen lassen.»
«Sagten Sie nicht, Sie haben deutsche Eltern?», fragte ich. «Na, vermutlich sind Sie sich nur bei der Mutter sicher.»
«Keiner von uns beiden ist sonderlich stolz auf die deutschen Wurzeln», sagte Earp.
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