Mississippi Delta – Blut in den Bayous (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
betrachtete ich Alafairs hochgerecktes, unschuldiges Gesicht und mußte dabei an die Opfer von Habgier und grausamer Gewalt und politischem Wahnsinn überall auf der Welt denken. Ich habe nie geglaubt, daß ihr Leiden Zufall ist oder ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Daseins – ich glaube, es ist die unmittelbare Folge der Raffgier gewisser Cliquen, eigennützigen Machenschaften von Politikern, die Kriege anzetteln, an denen sie selbst nie teilnehmen, und vielleicht schlimmer noch, der Gleichgültigkeit all jener von uns, die es besser wissen.
Ich habe viele dieser Opfer mit eigenen Augen gesehen, habe gesehen, wie sie aus Dörfern getragen wurden, die wir mit Granatwerfern beschossen hatten, mit Benzin übergössen, nachdem sie von Napalm verbrannt worden waren, aus Erdlöchern am Flußufer geschaufelt, wo man sie lebendig begraben hatte.
Doch so schrecklich meine Erinnerungen an Indochina auch waren, ein Foto, das ich als Kind gesehen hatte, schien wie eine Kapsel den düsteren Traumbezirk, in den ich gestürzt war, einzuschließen. Es war von einem Nazifotografen in Bergen-Belsen aufgenommen worden und zeigte eine jüdische Mutter, die eine Betonrampe entlang zur Gaskammer ging, auf dem Arm ein Baby, an der anderen Hand einen kleinen Jungen und hinter ihr herlaufend ein Mädchen von vielleicht neun Jahren. Das Mädchen trug eine kurze Stoffjacke, genau wie die, die die Kinder in meiner Grundschule getragen hatten. Das Bild war schlecht belichtet, die Gesichter der Familie schattenhaft und verschwommen, doch aus irgendeinem Grund hob sich die weiße Socke des kleinen Mädchens, die auf den Knöchel gerutscht war, klar vor dem dunklen Hintergrund ab, als wäre ein Strahl grauen Lichts darauf gefallen. Das Bild dieser verrutschten Socke auf jenem kalten Gang war für immer haften geblieben. Ich kann nicht sagen, warum. Aber dasselbe empfinde ich, wenn ich, Annies Tod noch einmal durchlebe, mich an Alafairs Geschichte über ihr Indianerdorf erinnere, oder wenn jener alte, verschlissene Film aus Vietnam noch einmal vor meinen Augen abläuft. Ich bin dann wie in einen schwarzen Kasten gebannt, der mich nicht loslassen will.
Wenn das Denken aussetzt, rufe ich mir manchmal eine Stelle aus dem Buch der Psalmen in Erinnerung. Ich verfüge über keinerlei theologische Kenntnisse, mein religiöses Empfinden ist angeschlagen, doch jene Zeilen scheinen eine Antwort zu geben, die meine Vernunft nicht bieten kann: daß die Unschuldigen, die stellvertretend für uns leiden, Gesalbte des Herrn sind und von Gott auf besondere Weise geliebt werden – die Votivkerze ihres Lebens hat sie zu Gefangenen des Himmels gemacht.
Die Nacht hindurch regnete es, und am Morgen kam die Sonne weich und rosa durch den Dunst, der über den Bäumen am anderen Ufer des Bayou aufstieg. Ich ging über die Zufahrt zum Hauptweg, holte die Zeitung aus dem Briefkasten und las bei einer Tasse Kaffee auf der Veranda.
Das Telefon klingelte. Ich ging hinein und nahm ab.
»Was fällt Ihnen ein, mit dieser Lesbe in der Gegend rumzufahren?«
»Dunkenstein?« fragte ich.
»Genau. Was haben Sie mit dieser Lesbe zu schaffen?«
»Geht Sie nichts an.«
»Alles, was Sie und Bubba tun, geht uns was an.«
»Woher wissen Sie, daß ich mit Claudette Rocque zusammengewesen bin?«
»Wir haben unsere Methoden.«
»Da war kein Beschatter weit und breit.«
»Vielleicht haben Sie ihn bloß nicht gesehen.«
»Da war kein Beschatter.«
»Und?«
»Haben Sie bei denen das Telefon angezapft?« Am anderen Ende blieb es stumm.
»Was wollen Sie mir nun mitteilen, Dunkenstein?« fragte ich. »Daß ich glaube, Sie spinnen.«
»Sie soll das Telefon benutzt haben, bloß um jemand zu erzählen, daß ich sie nach New Iberia gefahren habe?«
»Sie hat’s ihrem Mann erzählt. Sie hat ihn aus einer Bar angerufen. Man könnte meine, daß Sie ein besonders blöder Scheißer sind, Robicheaux.«
Ich schaute hinaus auf den Dunst, der über den Pecanobäumen hing. Die Blätter waren dunkel und schwarz vom Tau.
»Vor ein paar Minuten hab’ ich noch gemütlich bei einer Tasse Kaffee und der Morgenzeitung gesessen«, sagte ich. »Ich glaube, ich lese jetzt die Zeitung zu Ende und vergesse dieses Gespräch.«
»Ich rufe aus dem kleinen Lebensmittelladen an der Zugbrücke an. Ich bin in ungefähr zehn Minuten vor Ihrer Tür.«
»Ich denke, ich werd’s so einrichten, daß ich bis dahin auf dem Weg zur Arbeit bin.«
»Nein, das werden Sie nicht. Ich habe schon auf Ihrer
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