Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
chaotischeren Ausprägungen von Kreativität sucht man vergeblich.
Auch Überreste der Vergangenheit sind nur wenige zu entdecken.
In Singapur gibt es keinen Stillstand. Stellen Sie sich eine asiatische Version von Zürich vor, die sich auf einer Insel am Fuß von Malaysia befindet. Ein Mikrokosmos voller wohlhabender Bürger in einer Stadt, die tatsächlich ein bisschen an Disneyland erinnert. Ein Disneyland mit Todesstrafe.
Aber Disneyland wurde nicht auf den Überresten eines seltsamen kolonialen Themenparks aus dem 19. Jahrhundert errichtet, der die romantischen Sehnsüchte und kaufmännischen Bedürfnisse des britischen Weltreichs befriedigen sollte. Genau so war es mit Singapur. Teile des britischen Konstrukts ragen noch – in frische Farben getaucht – in kuriosen Winkeln aus dem weißen Glitzern dieser Neo-Gernsback-Metropole. Die wenigen, absichtlich stehen gelassenen Bruchstücke der historischen Textur sollen daran erinnern, was für ein merkwürdiger Umschlagplatz Singapur einmal gewesen ist – ein Produkt desbritischen Weltreiches, das selbst Hongkong an Schrulligkeit noch übertraf.
Der Versuch, Kontakt zum alten Singapur herzustellen, verursacht eher Schmerzen. Als sei der New Orleans Square im Disneyland im echten French Quarter errichtet worden und hätte dieses als gläsernes Simulacrum ersetzt. Die Fassaden der erhalten gebliebenen viktorianischen Geschäftshäuser erinnern an Covent Garden an einem ungewöhnlich sonnigen Tag in London. Vom Jetlag geplagt unternahm ich mehrere einsame Spaziergänge im Morgengrauen, wenn die Geister einer Stadt am ehesten zum Vorschein kommen. Von früheren Zeiten war jedoch nur wenig zu sehen: ein brennendes Räucherstäbchen in einem Messinghalter an einer weißgestrichenen Fassade, ein Spiegel über der Tür eines Elektrogeschäfts, der das Böse abwenden sollte, eine verrostete Fahrrad-Rikscha, die an einem frisch gestrichenen Eisengeländer festgekettet war. Von der Vergangenheit ist hier kaum etwas geblieben.
Als Temenggong, ein malaysischer Fürst, 1811 in Singapura eintraf, um die Löwenstadt mit hundert Malaysiern neu zu besiedeln, hatte der Dschungel die Ruinen der Stadt aus dem 14. Jahrhundert, um die Java, Siam und China einst gekämpft hatten, längst zurückerobert. Nur acht Jahre später setzte Sir Thomas Stamford Raffles seinen Fuß auf das von Kraits und Flusspiraten nur so wimmelnde Land und beschloss, dort einen britischen Handelsstützpunkt zu errichten. Raffles hatte die spleenige Vision, für jeden der kolonialen Juwelen in der Krone Ihrer Majestät ein eigenes ethnisches Viertel zu errichten: hier Arab Street, da Tanjong Pagar (für die Chinesen) und dort drüben Serangoon Road (für die Inder). Und Raffles’ Themenpark boomte ganze hundertzehn Jahre lang – ein freier Hafen, eine Groschenheft-Fantasie für kleine Jungen, die direkt aus der Feder von Talbot Mundy stammen könnte. Ein Ort, wo jedes nur erdenkliche menschliche Gewürz Asiens auf robusten britischenPorzellantabletts feilgeboten wurde: »das Manchester des Ostens«. Eine echt heiße Nummer.
Als die Japaner kamen und die Stadt mit bestürzender Leichtigkeit einnahmen, endete die britische Traumzeit. Die Nachkriegsjahre brachten raschen Verfall und zugleich das Bestreben nach Unabhängigkeit. 1965 wurde Mr Lee Kuan Yew, ein Rechtsanwalt, der in Cambridge studiert hatte, der erste Premierminister des Landes. Heute entspricht Singapur weitaus exakter Lee Kuan Yews Vision, als das Manchester des Ostens der von Sir Stamford Raffles je entsprochen hatte. Lee Kuan Yews People’s Action Party ist seit damals an der Macht – nicht zuletzt, weil sie mit allen Mitteln dafür gesorgt hat, an der Macht zu bleiben. Das Emblem der PAP ist ein Comic-Blitz in einem Kreis – Reddy Kilowatt als Maskottchen einer kapitalistischen Einparteien-Technokratie.
FINANZDATEN ALS STAATSGEHEIMNIS
SINGAPUR – Ein Regierungsbeamter, zwei private Volkswirtschaftler und ein Zeitungsredakteur werden am 21. Juni gemeinsam vor Gericht gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, ein offizielles Staatsgeheimnis verraten zu haben – die ökonomische Wachstumsrate Singapurs.
Die Angeklagten – Patrick Daniel, Redakteur der Business Times, Tharman Shanmugaratnam, ein Beamter der Währungsbehörde Singapurs, sowie Manu Bhaskaran und Raymond Foo Jong Chen, Mitarbeiter der Maklerfirma Crosby Securities – plädierten auf unschuldig.
South China Morning Post, 29.04.1993
Das Singapur von Reddy Kilowatt sieht aus
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