Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
wie eine bewohnbare Version des Tagungsdistrikts von Atlanta. Jedes dritte Gebäudebesitzt hier einen festlichen Partyhut, der von demselben Designer stammen könnte, der Loews Chinese Theater entworfen hat. Rokokopagoden thronen auf Megagebäuden mit glatten Flanken, die so viel Kubikmeter verglaste Innenhöfe beherbergen, dass man daraus mehrere mittelgroße Weltraumkolonien erschaffen könnte. Auf der Orchard Road, der Fifth Avenue Südostasiens, auf der sich mehrstöckige Einkaufszentren drängen, ist eine aufstrebende Mittelklasse unablässig am Shoppen. Die meisten von ihnen sind jung und in computergegerbte Baumwollstoffe aus dem örtlichen Gap-Klon gekleidet – eine attraktive Bevölkerung, die sich in ihren Shorts, Reeboks und Matsuda-Sonnenbrillen wirklich sehen lassen kann.
Einen alternativen, wenn nicht gar systemkritischen Stil findet man in Singapur dagegen seltener. Einmal sah ich zwei junge Malaysier, die schlichte schwarze Heavy-Metal-Jeans, T-Shirts und hüftlanges Haar trugen. Das T-Shirt des einen zierten die Rastafari-Farben – sein Besitzer musste Eier von der Größe von Durian-Früchten besessen haben oder selbstmörderisch veranlagt gewesen sein oder beides. Ansonsten kein Anzeichen von Rebellion weit und breit. (Mir ist in Singapur nicht ein einziges »Bad Girl« begegnet. Und ich habe sie vermisst.) Ein Blick auf das Angebot an Musikkassetten und CDs macht deutlich: Hier wird vor allem auf eine Pop-Diät von solcher Mainstream-Seichtheit gesetzt, dass die Auswahl von mormonischen Missionaren stammen könnte.
»Sie haben nicht zufällig Shonen Knife da?«
»Sir, Sie befinden sich in einem Musikgeschäft.«
Allerdings braucht man auch keine Mormonen, um seinen Pop sauber zu halten, wenn man die Undesirable Propagation Unit (UPU) hat, eine von mehreren staatlichen Zensurbehörden. (Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob die UPU wirklich dafür zuständig ist, die Pop-Musik in Singapur zu zensieren, mir gefällt einfach der Name der Behörde.) Diese verschiedenenÄmter bewahren den Geist der Nation davor, von Schundblättern wie der Cosmopolitan beschmutzt zu werden. Buchläden bieten in Singapur deshalb einen reichlich traurigen Anblick – es sind große Läden, in denen starker Andrang herrscht, die jedoch nichts verkaufen, das für mich irgendwie von Interesse wäre. Wie ein kastrierter W HSmith. Als ich mich in den Science-Fiction- und Fantasyabteilungen dieser Läden umsah, stellte ich mit leiser Zufriedenheit fest, dass meine Werke offenbar nicht lieferbar waren. Ich weiß nicht genau, ob die UPU wirklich ihre Einfuhr untersagt hatte, aber wenn ja, befinde ich mich auf jeden Fall in guter Gesellschaft.
Die Lokalzeitungen, darunter ein seltsam denaturiertes Boulevardblatt namens New Paper , sind im Wesentlichen Staatsorgane, die nur ausgewählte Nachrichten verbreiten. Diese ständige Propaganda im Dienste der Ordnung und Gesundheit, des Wohlstandes und der Lebensart Singapurs erfüllt einen rasch mit einem orwellschen Grauen. (Dass der Große Bruder sich hier hinter einem lächelnden Gesicht verbirgt, macht die Sache auch nicht besser.) Es ist durchaus möglich, in Singapur zu wohnen und trotzdem über die globalen Ereignisse informiert zu sein. Nur bestimmte Nuancen und Zwischentöne werden etwas abgedämpft oder wenn möglich ganz ausgeblendet …
Das Fernsehen hat sich in Singapur darauf spezialisiert, den Singapurern ihren eigenen Lebensstil zu erklären. Chinesische, malaysische oder indische Vorzeigefamilien erläutern in kurzen Theaterstücken die Sitten und Gebräuche der einzelnen Kulturen. Die in diesen Sendungen gezeigte Familienwelt erinnert an die Serie Leave It to Beaver (dt. Erwachsen müsste man sein ), nur ohne ihren Biss – eine Sphäre des idealisierten Paternalismus, die US-Amerikaner meines Alters an die öffentliche Selbstverliebtheit ihres Landes Mitte der 50er-Jahre erinnert.
»Mensch, Papa, bin ich froh, dass du dir die Zeit genommenhast, uns das Fest der hungrigen Geister so ausführlich zu erklären.«
»Schau, mein lieber Sohn, da kommt deine Mutter mit fettfreier Lup Cheong -Wurst und entrahmter Kokosmilch – ein nahrhafter und cholesterinarmer Snack.«
Tatsächlich erinnert in Singapur einiges an das Jahr 1956. Der Krieg (oder in diesem Fall der wirtschaftliche Überlebenskampf) verlief offenbar erfolgreich, eine immer größer werdende Mittelklasse erfreut sich wachsenden Wohlstands, gewaltige öffentliche Projekte wurden erfolgreich
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