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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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bewältigt, noch ehrgeizigere sind in Planung, und eine zutiefst paternalistische Regierung hält die dreifache Bedrohung aus Kommunismus, Pornografie und Drogen in Schach – koste es, was es wolle.
    Die einzige Schwierigkeit besteht nur darin, dass in der restlichen Welt das Jahr 1956 längst Vergangenheit ist. Obwohl die Singapurer vermutlich sagen würden, dies sei unser Problem. (Spät in der Nacht in der Abgeschiedenheit meines Hotelzimmers frage ich mich manchmal, wie die Zukunft aussähe, wenn sie damit recht hätten.)
    Wirtschaftlich steht Singapur nämlich gar nicht mal schlecht da. Die Zukunftsaussichten sind hier absolut rosig. Welches andere Land ist schon damit beschäftigt, einem sozioökonomischen Gletscher gleich zu kalben und sich selbst zu klonen? Singapur ist der erste moderne Stadtstaat, der mit dem Gedanken spielt, eine ganze Kette von Mini-Ablegern seiner selbst zu schaffen.
    In der Küstenstadt Longkou, in der chinesischen Provinz Shandong (direkt gegenüber von Korea) ziehen Unternehmer aus Singapur gerade den ersten dieser Ableger hoch – einen modernen Hafen, ein Kraftwerk, Hotels, Wohnhäuser und natürlich Einkaufszentren. Das Projekt wird auf 1,3 Quadratkilometern Fläche errichtet und erinnert mich an »Mr Lees Groß-Hongkong« in dem Roman Snow Crash von Neal Stephenson– ein eigener Staat, der aus dem Boden gestampft wird wie die Chinaimbissketten an den Rändern amerikanischer Städte. Aber »Mr Lees Groß-Singapur« verspricht handfeste Geschäfte, und die Chinesen scheinen ganz erpicht darauf, möglichst schnell viele Ableger davon zu erhalten.
    In einer fremden Stadt suche ich normalerweise erst einmal nach dem Kaputten und Zerfallenen, das etwas von den gesellschaftlichen Mechanismen erahnen lässt, die dort am Werk sind, und mir einen Blick hinter die von der Tourismusbehörde sanktionierten Potemkinschen Dörfer erlaubt. In Singapur geht das nicht, weil es dort nichts Zerfallenes gibt. Alles Kaputte wurde bereits durch etwas Neues ersetzt. (Das Wort »Infrastruktur« nimmt in dieser Stadt eine neue, klaustrophobische Bedeutung an. Irgendwie ist hier alles Infrastruktur.)
    Gibt es keine heruntergekommenen Gegenden, lassen für gewöhnlich das Nachtleben und die Sexindustrie Rückschlüsse auf das lokale Unbewusste zu. Doch auch in dieser Hinsicht hat Singapur erwartungsgemäß wenig zu bieten. Zouk, vermutlich der angesagteste Dance-Club der Stadt (der sich am Vorbild der Rave-Szene Ibizas orientiert), ist eine nette Lokalität. Er erinnerte mich an eine große Disco in Barcelona, nur ohne die Partystimmung. Wer Verruchteres sucht, muss über den Causeway nach Johor fahren, dorthin, wo es gerüchteweise die Geschäftsmänner aus Singapur hintreibt, die sich vergnügen wollen. Man liest des Öfteren davon, dort werde Clubs die Lizenz entzogen, weil sie Privatkabinen mit bedauernswerten Filipinas bestücken. Das islamische Tijuana am anderen Ende des Causeway – wo sonst auf der Welt ist eine verruchte Grenzstadt islamisch geprägt? – scheint also als eine Art Druckventil zu dienen und eine symbiotische Beziehung zu dem Inselstaat zu haben. Damit besitzt es eine wichtige psychische Funktion, zu der sich aber vermutlich nie jemand offiziell bekennen würde.
    Mit seiner eigenen Sexindustrie ist Singapur folgendermaßen verfahren: Der traditionelle Rotlichtbezirk wurde in eine Freizeitparkattraktion verwandelt, und die Massagesalons wurden in den Beverly Centern untergebracht. Auf der Bugis Street, die einmal für ihre transvestitischen Prostituierten bekannt war – ein Ort, wo man sich Noël Coward in einer Rikscha hätte vorstellen können, high auf Opium und Kokain –, wurde, als die Szene dort sich nicht unterdrücken ließ, ein U-Bahnhof gebaut. »Keine Sorge«, hatte die Regierung gesagt, »wenn der Bahnhof fertig ist, stellen wir alles wieder so her, wie es vorher war.« Wie eigentlich nicht extra erwähnt werden muss, strahlt die wiederhergestellte Bugis Street ungefähr den erotischen Charme von Frontierland aus: Transvestiten sind hier nur noch auf Wandgemälden zu sehen.
    Mit den Bedürfnissen der Heterosexuellen wurde anders verfahren – vermutlich wurde ihnen im konfuzianischen Staatsgefüge eine gewisse Bedeutung beigemessen: In den meisten Einkaufszentren gibt es gegenwärtig mindestens ein so genanntes »Health Center« – Läden, die man auch für schicke Mini-Spas halten könnte, deren Zweck jedoch einzig und allein darin besteht, den zahlenden Kunden von

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