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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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mattschwarze Schmetterlinge herumflattern sehen, ohne dass ihnen irgendjemand Beachtung geschenkt hätte. Außerdemhatte ich einen Blick auf die Walled City von Kowloon erhascht. Vielleicht würde es mir noch einmal gelingen, bevor sie der Zukunft zum Opfer fiel.
    Die Walled City ist traditionellerweise die Heimat von Schweinemetzgern, Kieferchirurgen ohne Lizenz und Heroinhändlern. Sie steht am Ende einer Rollbahn und wartet auf den Abriss. Ein Schandfleck für das moderne China. Ihre Beseitigung wurde bislang nur durch die ungeklärten Besitzverhältnisse verhindert.
    Bienenstock der Träume. Diese willkürlich verteilten, nicht genormten Fenster. Wie sie das geschäftige Treiben des Kai Tak-Flughafens in sich aufzunehmen und einem schwarzen Loch gleich alle Energie aufzusaugen schienen.
    Ich war bereit für einen Szenenwechsel …
    Ich lockerte meinen Schlips und verließ den Luftraum Singapurs.
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    Wie ich hörte, hat sich in Singapur seit meinem letzten Besuch dort vieles zum Besseren gewendet, und das freut mich. Damals reagierte die Landesregierung auf meinen Artikel, indem sie die Einfuhr der Zeitschrift Wired verbieten ließ. Man könnte also sagen, dass dies der kontroverseste Text in diesem Sammelband ist.
    Nach seinem Erscheinen wurde mir vorgeworfen – allerdings nicht von der Regierung Singapurs –, einen perversen neokolonialen Luddismus zu vertreten. Meine Kritik an Singapur war aber nicht, dass das Land zu modern und fortgeschritten sei, sondern dass dort einfach ein totalitäres Regime herrschte. Wenngleich es zumindest mit offenen Karten spielte, würde ich heute, angesichts härterer Zeiten, hinzufügen.
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The Globe and Mail
September 2001
    In jener furchtbaren Woche musste ich immer wieder an das winzige Schaufenster von E. Buk denken, einem herrlich idiosynkratischen Antiquitätenhändler in SoHo. Buk hat nie offen. Hinter dem kleinen Fenster in einer Nebenstraße befindet sich kein Laden. Da ist nur eine verschlossene Tür und vermutlich eine Treppe. Ein zerkratztes Messingschild deutet darauf hin, dass man einen Termin machen kann. Das habe ich zwar nie getan, aber wenn ich zufällig an Mr Buks Schaufenster vorbeikomme (irgendwie kann ich mir nicht merken, wo es sich genau befindet), bleibe ich unweigerlich stehen und betrachte voller Staunen und Neugierde die ungewöhnlichen Dinge – nie mehr als drei –, die er aus der kollektiven Erinnerung hervorgeholt hat. Es ist mein Lieblingsschaufenster in ganz Manhattan. Nicht einmal London kann ihm an wunderbarer Absonderlichkeit und borgesscher Faszinationskraft das Wasser reichen.
    Schaue ich in E. Buks Fenster, ist das so, als würde ich in die hinterste Ecke einer Höhle blicken, wo Manhattan seine Träume aufbewahrt. Man weiß nie, was einen dort erwartet. Einmal war es ein gusseisernes Bruchstück mit Blumenmuster von der Größe eines Küchenherdes – vielleicht ehemals Teil der Brooklyn Bridge. Ein anderes Mal eine liebevoll von Hand gefertigte Sperrholzschachtel, in der sich detailgetreu bemalte Modelle sämtlicher Raketen aus den Arsenalen der USA und der UdSSR zur Zeit ihrer Herstellung befanden. Letztere faszinierte mich besonders, weil sie Erinnerungen an den KaltenKrieg und die Kubakrise weckte. Offensichtlich handelte es sich um militärisches Unterrichtsmaterial, und ich fragte mich, wozu es den Ausbildern einmal gedient haben mochte. Damals war es für mich ein Überrest aus einer dunklen und schrecklichen Zeit, die in meiner Erinnerung mehr und mehr zu einem Traum wurde – einem schlimmen Albtraum aus meiner Kindheit.
    Letzte Woche musste ich immer wieder an E. Buks Fenster zwischen Houston und Canal Street denken und an den Staub, der sich vermutlich dort auf dem Fensterbrett sammelt. Dieser Staub enthält die Überreste der pulverisierten Toten. Die Überreste von Scheiterhaufen und gesprengten Träumen.
    Unendlich viel davon.
    Als sich dieser Staub auf Buks gesammelten Objekten, was immer er an jenem Dienstag in seinem Fenster auch ausgestellt haben mochte, niederließ, veränderte er ihre Bedeutung. Erst der Staub machte die Collage komplett, den Setzkasten zur Leichenhalle.
    Für mich war das ein Geschenk, weil es mir erlaubte, meinen Schmerz zu verorten – einen Schmerz, den ich noch immer kaum benennen und begreifen kann. Einer meiner heimlichen Lieblingsorte in Manhattan und auf der ganzen Welt trauerte mit mir.
    Manche Gegenden Manhattans werden inzwischen als »gefrorene Zonen« bezeichnet, und wir haben

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