Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
grünen Hand, dem ich vom Bahnhof Shibuya aus folgte, bis ich den Laden fand.
Was zu meines Vaters Zeiten Abercrombie & Fitch für den gut betuchten Sportfischer oder Jäger war, ist Tokyu Hands für den Hobbytischler oder für Leute, die auf besonders gründliche Schuhpflege Wert legen oder funktionstüchtige Messingmodelle viktorianischer Dampftraktoren bauen.
Tokyu Hands beruht auf dem Konzept, dass dem Kunden irgendetwas sehr wichtig ist. Handelt es sich um ein glänzendes Paar Schuhe und ist der Kunde hingebungsvoll genug bei der Sache, kann es sein, dass er die allerbeste deutsche Sohlenrandfarbe braucht, um seine Schuhe jede Woche mit dem heiligen Ernst des Museumsrestaurators zu pflegen.
Ich selber war von diesem Laden, der die Begehrlichkeit des Zwanghaften verströmt, sofort begeistert. Ich hatte das Gefühl, auf einen Schlüsselaspekt der japanischen Kultur gestoßen zu sein, und alles, was ich seither darüber erfahren habe, scheint dies nur zu bestätigen.
Vielleicht könnten auch Amerika oder England einen solch hochgradig spezialisierten Laden hervorbringen – eine Mischung aus Baumarkt und Hobbybedarfsladen –, aber es wäre dennoch nicht Tokyu Hands.
Später stieß ich auf Kyoichi Tsuzukis Fotografien japanischer Wohnungen. »Cockpit-Leben«: Alles, was man besitzt, liegtoffen vor einem ausgebreitet. Man hat alles ständig im Blick. Für westliche Augen unvorstellbar kleine Räume, die wahnsinnig vollgestellt und trotzdem gemütlich sind; als würde man in einer Cornell Box leben, die von einem leichten Erdbeben durchgeschüttelt wurde (und möglicherweise wurde sie das auch). Mühsam zusammengetragene Sammlungen überflüssiger Dinge: An der Wand einer Junggesellenwohnung stapeln sich vom Boden bis zur Decke ungeöffnete Plastikmodellbausätze von Militärfahrzeugen.
Diese Fotografien brachten mich dem Rätsel im Herzen von Tokyu Hands ein Stück näher, aber es entzog sich trotzdem meinem Verständnis.
Knapp eine Million Japaner, die Mehrzahl von ihnen junge Männer, haben sich bislang von der Außenwelt zurückgezogen. Manche nur für sechs Monate, andere für bis zu zehn Jahre. Bei einundvierzig Prozent dauert der Rückzug zwischen ein und fünf Jahren, doch nur sehr wenige legen Symptome wie Agoraphobie, Depression oder andere Probleme an den Tag, die ein solches Verhalten normalerweise erklären könnten.
Japanische Eltern betreten das Zimmer ihres Kindes nie ohne dessen Erlaubnis.
In Tokio bilden Verkaufsautomaten eine geheime Stadt der Einsamkeit.
Wenn man nur an Automaten kauft, ist es in Tokio möglich, tagelang jedem Blickkontakt mit anderen Menschen aus dem Weg zu gehen.
Die paradoxe Einsamkeit und Allmacht des Otaku, des ultimativen Enthusiasten des neuen Jahrhunderts: Faszination und Schrecken der totalen Einengung der persönlichen Bandbreite. Hikaru Dorodango – glänzende Schlammkugeln.
Professor Fumio Kayo von der University of Education in Kyoto entdeckte diese rätselhaften, glänzenden Kugeln 1999 in einem Kindergarten der Stadt.
Die Dorodango , Schlammklumpen, die mit den Händen zusammengepresst und unter großen Mühen zu perfekten Kugeln geformt werden, stießen auf gewaltiges Medieninteresse.
Die stummen jungen Männer, die um drei Uhr morgens in ihren ungewaschenen, seltsam altmodischen Kleidern und wegen der ungewohnten Helligkeit blinzelnd in einem 7-Eleven in Tokio auftauchen, um sich mit weißen Schaumstoffschüsseln voll Instant-Ramen einzudecken, sind ebenfalls mit der Schaffung von Dorodango beschäftigt. Ihr gewähltes Material: das Leben selbst.
Ein fertiger Dorodango besitzt etwa siebeneinhalb Zentimeter Durchmesser, und seine glänzende Oberfläche erzeugt eine Illusion von Tiefe, die an traditionelle japanische Keramikglasuren erinnert. Ein Dorodango wird zum wertvollsten Schatz seines Schöpfers.
Kayo hat eine Skala erfunden, mit der sich der Glanz eines Dorodango messen lässt. Der höchste Wert ist dabei die 5. Er brauchte zweihundert Versuche und musste auf eine Analyse mit dem Elektronenmikroskop zurückgreifen, um die Resultate der Kinder nachzuahmen und einen ähnlich stark glänzenden Dorodango zu erschaffen.
Woher die Tradition des Hikaru Dorodango indes stammt, bleibt ein absolutes Rätsel.
Die Stockwerke von Tokyu Hands werden für mich inzwischen von der mysteriösen, allgegenwärtigen Präsenz des Hikaru Dorodango beherrscht, ein Artefakt von solch unglaublicherSchlichtheit und Perfektion, dass es das erste oder letzte Objekt
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