Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
sicher alle solche Zonen auch in unseren Herzen – abgeriegelte Gebiete, die auf Tauwetter warten. Aus reinem Selbstschutz von der Wirklichkeit losgelöst. Doch wie schnell kann in Kriegszeiten ein solches Tauwetter einsetzen?
Ich habe keine Ahnung.
Im vergangenen Jahr zeigte ich meinen Kindern zum ersten Mal New York. Inzwischen bin ich froh, dass sie die Stadt noch kennenlernen konnten, bevor die Bedeutung des Textesfür immer verändert wurde. Ich muss an die Begeisterung meines Sohnes über die nostalgische Überspanntheit eines Bagel-Restaurants im Village denken, an den ersten Spaziergang mit meiner staunenden Tochter durch SoHo. Ich habe das Gefühl, als hätten sie London vor dem Blitz gesehen.
New York ist eine große Stadt und spielt deshalb in der Geschichte der Zivilisation eine bedeutende Rolle. Große Städte können und müssen nicht selten solche Wunden einstecken. Sie erdulden ihr Leid, machen weiter, als wäre nichts geschehen, und tragen uns, die Zivilisation und Schaufenster wie das von Mr Buk, egal wie merkwürdig und zerbrechlich, mit sich.
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Diesen Essay schrieb ich zwei Wochen nach den Anschlägen des 11. September. Er war ausschlaggebend für meine Entscheidung, einen damals bereits angefangenen Roman doch nicht abzubrechen. Der Romananfang bereitete mir ungewöhnliche Schwierigkeiten. Eine Frau aus New York wacht allein in der Wohnung eines verreisten Freundes auf, mit einem Gefühl, das ich irgendwie weder benennen noch beschreiben konnte. Am Tag nach den Anschlägen war ich erst einmal der Meinung, dass ich den Roman, der absichtlich nicht in der Zukunft angesiedelt war, nicht weiterschreiben konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie eine Figur aus New York sich nach diesen Ereignissen fühlen würde, und jeder Versuch, das nachzuempfinden, wäre anmaßend gewesen. Ich redete und mailte jedoch viel mit Freunden aus New York. Und als The Globe and Mail mich bat, einen kleinen Text zum 11. September zu schreiben, verfasste ich das hier. Kurz darauf kam mir der Gedanke, dass Cayce, die Hauptfigur des Romans, die sich mir bislang so standhaft entzogen hatte, gerade in Mr Buks Fenster geschaut hatte, als das erste Flugzeug eintraf. Der Blick in das Schaufenster und alles, was danach geschah, ist für das kalte, unaussprechliche Gefühl verantwortlich, mit dem sie in London aufwacht.
Im Buch veränderte sich dann die Geografie ein wenig. Das Fenster, das ihre Aufmerksamkeit erregt, befindet sich auf der anderen Straßenseite und die Straße selbst etwas weiter nördlich. Wie es eben in der Literatur und in Träumen häufig passiert.
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Tate Magazine
September / Oktober 2002
Japan, 1996: Der neunzehnjährige Sohn einer Frau hat Probleme in der Schule. Eines Abends geht er in sein Zimmer und schließt die Tür. Er verlässt das Zimmer nur, wenn er sicher ist, dass Mutter und Vater aus dem Haus sind oder schlafen.
Die Frau steht stundenlang schweigend vor seiner Tür und wartet darauf, dass er herauskommt.
Sind seine Eltern abwesend, geht er in die Küche oder das Wohnzimmer und schaut fern oder benutzt den Computer. Er begibt sich auf die Toilette und leert die Behälter aus, die er zu diesem Zweck in seinem Zimmer aufbewahrt.
Seine Mutter schiebt ihm das wöchentliche Taschengeld unter der Tür durch. Sie nimmt an, dass er sich damit in einem der Shops oder an den allgegenwärtigen Automaten Lebensmittel und andere notwendige Dinge besorgt.
Er ist jetzt fünfundzwanzig.
Sie hat ihn seit sechs Jahren nicht mehr gesehen.
Als ich das erste Mal die Filiale von Tokyu Hands in Shibuya besuchte, hatte ich es auf einen besonderen japanischen Stöpsel abgesehen: eine einfache schwarze Gummikugel, etwas größer als ein Golfball und deutlich schwerer, an einer robusten Kette aus rostfreiem Edelstahl.
Ein befreundeter Architekt aus Vancouver hatte mir mal einen von der Sorte gezeigt. Er bewunderte das Design wegen seiner Schlichtheit und Funktionalität: Der Stöpsel findet den Ausguss von selbst und setzt sich davor. Vor meiner ersten Reisenach Tokio zeichnete mein Freund mir auf, wo ich Tokyu Hands finden könnte, ein Geschäft, das er nicht so recht zu beschreiben wusste. Dort sollte es jedenfalls diese Stöpsel geben und noch vieles mehr.
Anfangs glaubte ich, der Name des Ladens sei Tokio Hands, aber vor Ort erfuhr ich, dass er ein Ableger der Kaufhauskette Tokyu war. Das Geschäft in Shibuya ziert ein auf alt gemachter asiatischer Spitzturm mit dem Markenzeichen der Kette, der
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