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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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freundlichen Onkel in mein Herz schloss, dieser Bewohner eines mythischen Ortes namens Buenos Aires, hatte den Aberglauben meiner Kindheit zerstreut. Mit der Beiläufigkeit, mit der ein Gentleman sich verschwörerisch zwinkernd an den Hut tippt, hat er die Grundlagen meines Denkens transformiert. Ich merkte, wie eine gewisse Unreife und Albernheit einfach von mir abfielen.
    Ich saß immer noch in dem grünen Sessel und war doch ein anderer Mensch geworden, der auf eine andere Welt blickt – eine, deren Mechanismen offenbar unendlich viel rätselhafter und interessanter waren, als ich zuvor hätte ahnen können.
    Als ich den Raum verließ, nahm ich Borges mit mir, und mein Leben ist seither ein besseres geworden.
    Haben Sie die Bekanntschaft dieses Gentlemans noch nicht gemacht, kann ich Ihnen nur dringend dazu raten weiterzulesen. In aller Bescheidenheit übernehme ich hier am Anfang dieser inzwischen altehrwürdigen Sammlung seiner unvergleichlichen Werke die Rolle eines Butlers. Ich bin kein Borges-Experte und auch sonst kein Gelehrter, aber es ist mir eine große Ehre (eine, der ich mich kaum würdig fühle), Sie hereinzubitten.
    Willkommen.
    Jahrzehnte nach meiner ersten Bekanntschaft mit Borges’ Erzählungen besuchte ich ein Festival in Barcelona, mit dem sein Leben und Werk gewürdigt werden sollte. Es war Ende Dezember, und die Veranstaltung fand in einer riesigen, umgebauten Festung oder Burg statt – ein Gebäude, das während der viel zu langen Schreckensherrschaft von Francisco Franco vermutlich still und verwaist dagestanden hatte, heute jedoch im Zuge des Wiederauflebens der katalanischen Kultur und dank eines dicken Batzens EU-Fördergelder glänzte und funkelte wie eine Vakuumröhre in einem Reliquienschrein aus dem 13. Jahrhundert.
    An einem Nachmittag besuchte ich eine Ausstellung von Manuskripten und anderen Hinterlassenschaften des Autors in einem Saal im oberen Stockwerk. Dort angekommen stellte ich fest, dass sich die Ausstellungsstücke sämtlich unter Spezialglas befanden, das die Auswirkungen des grünen Stars imitierte – eine Augenerkrankung, unter der Borges gelitten hatte. Es waren stets nur Teile der Exponate sichtbar, und man musste ständig den Kopf hin und her drehen, wenn man sie genauer in Augenschein nehmen wollte. Ich erinnere mich an eine handgeschriebene Manuskriptseite – die Schrift fiel wie bei einem Kind seltsam schräg von links nach rechts ab – und an einen zerbrechlichen, rot lackierten chinesischen Miniatur-Vogelkäfig, den Borges von einem befreundeten Dichter geschenkt bekommen hatte.
    Danach machte ich mich auf den Weg zur La Rambla, wo ich Alberto Manguel, den einzigen Menschen, dem ich je begegnet bin, der Borges persönlich gekannt hatte, in einer Bar treffen wollte. Als ich Manguel zehn Jahre zuvor kennengelernt hatte, erzählte er mir, er selbst habe einmal einen Mann getroffen, der Franz Kafka gekannt hatte. Und was hatte dieser Mensch über Kafka zu erzählen? , fragte ich. Dass Kafka so ziemlich alles über Kaffee wusste, erwiderte Manguel. Inzwischen konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob Manguel ähnliche Details auch über Borges zu berichten wusste, und ich beschloss, ihn bei unserem Treffen danach zu fragen.
    Als ich den Plaça de Catalunya überquerte, entdeckte ich ein neu errichtetes Denkmal für einen katalanischen Märtyrer aus dem Bürgerkrieg. Das Denkmal war düster und zugleich äußerst bemerkenswert, eine monolithische und kopfüber in die Horizontale gekippte Granittreppe – eine Negation dessen, was Treppen sind, was Flucht ist, Leben und Hoffnung. Schaudernd stand ich daneben und versuchte, die Inschrift zu entschlüsseln. Da es mir nicht gelang, ging ich weiter zur Rambla und trafmich schließlich mit Manguel und seinen Freunden. Bei unserer Unterhaltung über sein neues Landhaus in Frankreich vergaß ich schließlich, die Sprache auf Borges zu bringen.
    Einige Tage später saß ich zu Hause in Vancouver am Computer und sah mir die Liveübertragung einer Videokamera an, die irgendwo hoch oben an einem Gebäude über dem Plaça de Catalunya angebracht war. Auf meinem Bildschirm war das schreckenerregende Denkmal zu sehen, die unnatürlich auf den Kopf gestellten Granitstufen, das stumme Symbol der Negation.
    Und daneben stand ein Mann in einem braunen Mantel, der dem glich, den ich getragen hatte, als ich an jenem Tag versucht hatte, die Inschrift des Denkmals zu entschlüsseln.
    Borges, unser häretischer Onkel mit seinem

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