Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
zyklischen Zeitverständnis, seinen unsichtbaren Tigern, seinen Paradoxa, den Messerkämpfern, Spiegeln und Sonnenaufgängen, hatte solche Technologien nicht nötig. Aber in jenem Moment, wie Sie bald werden nachvollziehen können, wenn Sie über unser seltsames Zusammentreffen hier hinwegsehen und umblättern, wusste ich, dass ich mich – einmal mehr – im Labyrinth befand.
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Eine wahrlich unverdiente Ehre, dass ich gebeten wurde, diese Einleitung zu schreiben. Ich bin immer noch peinlich berührt.
»Honk if you love Borges«, stand auf einem Autoaufkleber, den mein Lektor mir einmal geschenkt hatte. Ertappt.
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Rezension zu »London – Die Biographie von Peter Ackroyd«,
in The Whole Earth Catalog
Sommer 2001
Literarische Formen sind Werkzeuge, und selten wird eine wirklich neue erfunden.
Peter Ackroyd ist es meines Erachtens mit seinem Buch London – Die Biographie gelungen, eine solche neue Form zu schaffen, auch wenn es natürlich einige Vorläufer gab.
Schon seit etwa einem Jahrzehnt ist – wenn auch eher inoffiziell – eine Art »London-Projekt« im Gange, an dem mehrere Autoren beteiligt sind, unter denen Ackroyd mit Werken wie Der Fall des Baumeisters , Das Haus des Magiers und Der Golem von Limehouse eine herausragende Stellung einnimmt.
Diese Bücher entspringen einem Substrat deutlich eigenwilligerer und weniger bekannter Literatur: Iain Sinclairs Lyrik (Lud Heat , Suicide Bridge) , Romanen (Downriver , Radon Daughters) und seiner wunderbar halluzinatorischen Sachliteratur über London (Lights Out for the Territory) sowie der unwahrscheinlich detailreichen Ripperologie, die Alan Moore in seiner Graphic Novel From Hell betreibt. (Irgendwo tief im Herzen dieser New Wave Londonologie hausen die Tiger und Engel William Blakes, dessen Werke heutzutage ebenfalls als Graphic Novels bezeichnet werden würden.) All diese Texte versuchen eine Neukodierung jenes borgesschen Labyrinths namens London – die Retuschierung der Stadtgeschichte, die »Rückkehr des ehemals Vergessenen« nimmt die Form einer heroischen und eminent bedeutsamen Unternehmung an.
Ich habe dieses London-Projekt beinahe von Anfang an mitverfolgt, weil mich das Rätsel dieser unbegreiflichen Stadt beschäftigt,seit ich sie mit Anfang zwanzig das erste Mal besucht habe. Das Paradox jener gewaltigen menschlichen Ansiedlung, jenes Textes, der in der einzigen Sprache verfasst ist, zu der ich unmittelbaren Zugang habe und der sich mir dennoch hartnäckig verschließt, fasziniert mich schon seit geraumer Zeit. Keine Stadt habe ich häufiger besucht als London, immer auf der Suche nach einem Schlüssel, einem Rosettastein.
In den Neunzigern fand ich diesen Schlüssel in den Werken Iain Sinclairs, mit ihren seltsam okkulten Ausflügen in die Welt der urbanen Ley-Linien und geheimen Orte, an denen sich eine uralte und namenlose Macht konzentriert. Sinclairs beinahe autistische Vision drang zum glühenden Kern der Sache vor und machte all das greifbar, was zuvor unvorstellbar und unbeherrschbar gewesen war.
Doch Sinclairs an Lovecraft gemahnende Subtexte und Moores blutige Komplotte in From Hell haben letztlich genauso wenig Bestand wie alle anderen Verschwörungstheorien: Die Beschreibung einer geheimen Ordnung, die der Wirklichkeit zugrunde liegen soll, ist stets weniger komplex als die Realität selber, die sie angeblich durchdringt. Verschwörungstheorien und das Okkulte schenken uns Trost, weil sie uns Modelle der Welt liefern, die leichter zu begreifen sind als die Welt selbst und deshalb, selbst wenn sie düster und bedrohlich sind, weniger furchterregend wirken.
In London – Die Biografie widersteht Ackroyd dieser Versuchung, macht aber auf subtile, unheimliche und zugleich authentische Weise deutlich, dass jede Betrachtung Londons Fragen der Macht und der Einflusssphären in den Blick rückt – auch wenn es nicht immer offensichtlich sein mag.
Jedes der neunundsiebzig Kapitel des Buches stellt eine Kernbohrung in ein riesiges Reservoir an Geschichten und Stimmen dar und gleichzeitig einen informativen Aufsatz über ein bestimmtes Thema: Frauen, Aufstände, Trunkenheit, heiligeStätten, Küche, Amüsements gewalttätiger und nicht gewalttätiger Art, Gefängnisse, Musik, Seuchen, Morde, Elektrizität, Uhren, Magie, tote Flüsse, der Untergrund, Obdachlose, Bäume, Vorstädte …
Aus dieser einfachen Struktur ergibt sich eine neue literarische Form. Ich kenne kein anderes Werk über Stadtgeschichte, das dem gleichkommt
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