Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
oder Ähnliches zu bieten hat. Luc Santes Low Life würde mir noch einfallen – ein Buch über New York – oder Edward Seidenstickers Low City, High City über Tokio. Seidensticker kommt Ackroyds Leistung vermutlich am nächsten: die Ganzheit der Stadt und gleichzeitig ihre fraktale Vielfalt möglichst organisch einzufangen. Dieses Buch zu besitzen – oder vielmehr von ihm besessen zu sein –, ist für mich die beste Art, sich London über die Literatur anzueignen.
Und das London, das Ackroyd beschreibt, ist eine »Stadt der Echos«, in der bestimmte Orte von der ständigen Wiederholung der immer gleichen Geschichten geprägt sind, beispielsweise wenn die Obdachlosen heute unter demselben Kirchendach Schutz suchen, das schon vor Jahrhunderten Bettlern Zuflucht bot. Ackroyd zufolge fließt der Strom der Zeit in dieser Stadt in verschiedenen Gegenden unterschiedlich schnell und ist in manchen ganz zum Erliegen gekommen. Es ist eine Stadt, in der das ewige Leiden der Armen einen rätselhaften Zweck in der Gesamtheit der Dinge erfüllt – wir begegnen einem Dynamo der Qual und des Opfers, dessen Herkunft und Wesen schwieriger zu beschreiben und weitaus merkwürdiger sind als die hungrigen Geister in Der Fall des Baumeisters.
Mit den bisher bekannten literarischen Modellen einer Stadtgeschichte konnten solche Beobachtungen nicht eingefangen werden. Sie entspringen vielmehr einer originär postmodernen Agenda, einer vollkommen neuen und faszinierenden Art, über Städte zu schreiben.
Wollen Sie sich die großartigste Stadt der Welt aneignen,lesen Sie dieses Buch. Möchten Sie darüber hinaus lernen, wie man die Seele eines Ortes auf tiefschürfende und zeitgemäße Weise offenlegt, dann lesen Sie es ein weiteres Mal.
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In den Siebzigern war ich ein großer Fan des Whole Earth Catalogs, wenngleich er bei mir stets Schuldgefühle auslöste. Mir gefiel daran, dass er neue Wege aufzeigte, wie meine Generation die großen Probleme der Welt angehen könnte (retrospektiv ein Gedanke, der zur Ironie einlädt). Die Schuldgefühle, die ich verspürte, waren ebenso einfach gestrickt wie traumtänzerisch: Ich machte mir Vorwürfe, weil ich keine Windräder mit einem Leatherman reparierte, und fühlte mich deswegen furchtbar untätig.
Als Bruce Sterling viele Jahre später bei einer Ausgabe die Rolle des Gastredakteurs übernahm und mich um einen Beitrag bat, beschloss ich, Peter Ackroyds Buch als eine Art Leatherman zu betrachten, mit dem ich mir London als Schauplatz für meine literarischen Werke erschloss – etwas, das ich mir schon lange gewünscht hatte.
Übrigens werde ich Iain Sinclair in diesem Aufsatz nicht ganz gerecht, denn er hat in der Folgezeit in Werken wie Hackney, That Rose Red Empire oder Ghost Milk die wahren Monster der Stadt im 21. Jahrhundert erkannt und beim Namen genannt. Die Schuld liegt ganz bei mir – es mangelte mir lediglich an Geduld.
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The Observer
April 2001
»Warum Japan?« Seit etwa zwanzig Jahren bekomme ich immer wieder diese Frage gestellt. Soll heißen: Warum ist Japan der Schauplatz vieler meiner Geschichten? Als ich anfing, über Japan zu schreiben, erwiderte ich darauf, dass Japan schon bald eine wichtige Position in der Weltwirtschaft innehaben würde. Und so kam es dann ja auch. (Oder eigentlich war es damals schon so, die meisten Leute hatten es nur noch nicht bemerkt.) Wenig später antwortete ich, dass Japan kurz davor stünde, zum Mittelpunkt der Welt zu werden, dem Ort, zu dem alle Straßen hinführten. In Japan war das Geld, und dort wurden die Geschäfte abgewickelt. Heute, nach dem Platzen der New-Economy-Blase, wird mir dieselbe Frage immer noch gestellt, in demselben zweifelnden Tonfall: »Warum Japan?«
Weil Japan die Zukunft ist – oder zumindest am ehesten dem entspricht, was sich die Menschen weltweit darunter vorstellen.
Die Japaner sind unserer Zeit um einiges voraus. Sie sind die ultimativen Early Adopters und damit ein gefundenes Fressen für Science-Fiction-Autoren wie mich. Da ich der Überzeugung bin, dass kulturelle Veränderungen im Wesentlichen auf neue Technologien zurückgehen, sind die Japaner ein überaus dankbares Studienobjekt. Bei ihnen läuft dieser Prozess nämlich schon seit über einem Jahrhundert, und sie haben tatsächlich einen Vorsprung vor dem Rest der Welt, und wenn auch nur im Hinblick auf das, was früher als »Zukunftsschock« bezeichnet wurde (und inzwischen für uns alle Normalität geworden ist).
Nehmen wir zum Beispiel
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