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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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das Handy-Mädchen, das heute auf den Straßen Tokios allgegenwärtig ist: ein Schulmädchen, das unablässig Nachrichten auf seinem Handy schreibt (das es, wenn es sich vermeiden lässt, nie zum Telefonieren benutzt). Mit schier übermenschlicher Geschwindigkeit wandelt das Handy-Mädchen Daumenbewegungen in Kanji um, und sein Rang innerhalb der Handy-Gemeinschaft bemisst sich an der Anzahl der Nummern im Speicher seines Telefons. Was haben die Handy-Mädchen nur ständig miteinander zu bereden? Wahrscheinlich nichts Weltbewegendes. Kleine Botschaften, die hinter dem Rücken des Lehrers ausgetauscht werden. Aber hier geht es nicht um Inhalte, sondern um Schnelligkeit – die seltsame, unbewusste Sicherheit, mit der sich die Schulmädchen Tokios eine sekundäre Funktion (das Schreiben von SMS) eines neuen Handytyps zu Eigen machten und damit beinahe über Nacht eine eigene Mikrokultur schufen.
    Vor etwa einhundert Jahren wäre ein vergleichbares Technikwunder in Tokio die mechanische Uhr gewesen. Für die Grafiker der Meiji-Ära war eine große Uhr das satirische Symbol des verwestlichten Dandys. Die Japaner begriffen die Uhrzeit als vollkommen neues Kontinuum, als neue Realität.
    Die technokulturelle Anpassungsfähigkeit, aus der das Handy-Mädchen hervorging, ist das Resultat eines traumatischen und lang anhaltenden Prozesses der Entwurzelung, der in den 1860ern seinen Anfang nahm, als die Japaner nach einer Phase der kulturellen Isolation eine Schar intelligenter junger Adliger nach England schickten. Bei ihrer Rückkehr wussten diese jungen Männer von einer fremdartigen technologischen Hochkultur zu berichten, die für sie vermutlich genauso erstaunlich und beunruhigend war wie für uns ein Haufen unidentifizierbarer Weltraumschrott aus Roswell. Diese modernen Jungs und der Techno-Kult, den sie anstießen, sorgten dafür, dass Japan die Industrielle Revolution komplett schluckte. Die nachfolgendenKrämpfe im Verdauungstrakt waren heftig, schmerzhaft und verwirrend. Die Nation umarmte den medizinischen Fortschritt und baute Eisenbahnen mit Dampfloks, Telegrafen und allem, was dazugehört. Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt – die Japaner verloren den Verstand, halluzinierten, lallten sinnloses Zeug, rannten wild im Kreis herum, wurden vernichtet und wiedergeboren.
    Und nach ihrer Wiedergeburt waren sie die erste Industrienation Asiens. Nur wenige Jahrzehnte später setzte ein expansionistischer Modus ein, der wiederum im Endeffekt dazu führte, dass zwei der größten Städte Japans dem Erdboden gleichgemacht wurden – zerstört von einer feindlichen Technologie, die genauso gut aus einer fernen Galaxis hätte stammen können.
    Und dann tauchten ihre Feinde und Bezwinger – die Amerikaner – direkt vor ihrer Haustür auf und stellten mit einem Lächeln im Gesicht ein erstaunlich ehrgeiziges Programm der kulturellen Umgestaltung vor. In ihrem Bestreben, die nationale Psyche der Japaner von Grund auf neu zu strukturieren, katapultierten die Amerikaner sie versehentlich noch weiter in die Zukunft. Kurz darauf machten sie sich davon, um anderswo den Kommunismus zu bekämpfen.
    Ergebnis dieser drei einschneidenden Ereignisse (katastrophale Industrialisierung, Krieg, amerikanische Besetzung) ist das Japan, das uns heute gleichermaßen fasziniert und Magenschmerzen bereitet: eine Spiegelwelt, ein außerirdischer Planet, mit dem wir Geschäfte machen können, eine Zukunft.
    Wäre dies mit einem anderen asiatischen Land passiert, wäre das Resultat vermutlich nicht dasselbe gewesen. Die japanische Kultur ist auf eine Weise »kodiert«, die sich noch am ehesten mit der englischen vergleichen lässt; weshalb die Japaner der englischen Kultur auch so stark zugeneigt sind und umgekehrt. Daraus erklärt sich die quasi-totemistische Bedeutung, die in Japan beispielsweise das Karomuster von Burberryhat, oder auch die große Zahl von Paul-Smith-Läden im Land und vieles andere mehr. In beiden Nationen ist eine Art fraktale Kohärenz von Zeichen und Symbol zu beobachten, die weit in die Geschichte zurückreicht. Und Tokio ist auf seine Weise ebenso »eine Stadt der Echos« (um mit Peter Ackroyd zu sprechen) wie London.
    Von London aus bot sich mir stets der beste Blickwinkel auf Tokio, vielleicht weil die britische Bewunderung für die japanische Kultur etwas sehr Unterhaltsames hat. Dort gibt es eine lange Tradition von nachgemachten »Orientalia« – und eine gute Übersetzung hat häufig etwas, das das Original

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