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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Übertragungsmedien ist heute quasi die Definition einer technologisch rückständigen Gesellschaft.
    Anderswo nähern wir uns, aufgrund der Beschleunigung der Rechenleistung, dem Ausbau der Konnektivität und der gleichzeitigen Entwicklung von Überwachungssystemen und Trackingtechnologien, einem theoretischen Zustand absoluter Informationstransparenz, in dem die Überwachung nicht wie bei Orwell strikt hierarchisch ausgeübt wird, sondern in gewissem Maße demokratisiert wurde. Verliert das Individuum Stück für Stück seine Privatsphäre, so geschieht dasselbe mit Firmen und Staaten. Der Verlust der Privatsphäre mag anfangs als Resultat einer neuen Sicherheitspolitik erscheinen, auf lange Sicht könnte er jedoch lediglich eine typische Begleiterscheinung der überall zunehmenden Transparenz sein.
    Bestimmte Ziele der Total (inzwischen Terrorist ) InformationAwareness -Initiative der US-Regierung werden vielleicht allein schon durch die Weiterentwickelung des globalen Informationssystems erreicht (und nicht zwangsläufig oder ausschließlich zu Gunsten der USA oder irgendeiner anderen Regierung). Einfach weil heutzutage alle Informationen unausweichlich ihren Weg in den Cyberspace finden.
    Hätte Orwell die Erfindung des Computers vorausgeahnt (dessen Ursprung kurioserweise in Bletchley Park liegt, einem baufälligen englischen Landhaus, wo Alan Turing und andere Code-Knacker Pionierarbeit leisteten), hätte er sich vielleicht ein Wahrheitsministerium ausgedacht, das Lochkarten und Vakuumröhren einsetzt, um die Bevölkerung Ozeaniens ihrer letzten Überreste von Freiheit zu berauben. Aber ich möchte bezweifeln, dass sich an der Geschichte selbst viel geändert hätte. Hätte Ostdeutschland mitsamt Stasi überlebt, wenn es ihnen gelungen wäre, sich bis ins Computerzeitalter durchzuschleppen? Wohl kaum. Das System wäre trotzdem zusammengebrochen. Wenn auch nicht unter dem Gewicht des Überwachungsapparates und seiner Papierberge.
    Orwells Prognosen stammen aus der Ära der zentralisierten Übertragungsmedien – aber die Zeiten und die Technologien ändern sich. Hätte Orwell seinen Großen Bruder mit allen Werkzeugen der künstlichen Intelligenz ausstatten können, hätte er trotzdem im Rahmen eines älteren Bezugssystems geschrieben, und das Resultat hätte niemals unsere Situation heute beschreiben oder unsere Zukunft vorhersagen können.
    Dass unsere eigenen Großen Brüder im Namen der nationalen Sicherheit auf immer breitere und zunehmend transparente Datenbereiche zugreifen, mögen wir beunruhigend finden, aber letztlich machen Firmen, Nichtregierungsorganisationen und Individuen genau dasselbe. Das Sammeln und Verwalten von Informationen wird durch die globale Natur des Systems immerleichter – eines Systems, das nicht vor Ländergrenzen haltmacht und sich der Kontrolle durch die Regierungen mehr und mehr entzieht.
    Es wird zunehmend schwieriger – egal für wen –, ein Geheimnis zu bewahren.
    Im Zeitalter des Leaks und des Blogs, der Evidence Extraction und des Link Discovery, werden alle Wahrheiten früher oder später ans Tageslicht kommen. Darauf möchte ich insbesondere Diplomaten, Politiker und Firmenchefs hinweisen: Die Zukunft wird euch auf die Schliche kommen. Die Zukunft mit ihren noch unvorstellbaren Werkzeugen der Transparenz kennt kein Pardon. Am Ende wird jeder Einzelne genau für das einstehen müssen, was er getan hat.
    Ich sage jedoch »Wahrheiten« und nicht »Wahrheit«, weil die Kehrseite der neuen Allgegenwärtigkeit von Information weniger transparent als vielmehr völlig verrückt erscheinen mag. Egal wie viele leistungsstarke Werkzeuge einem zur Verfügung stehen, um aus Informationen Muster herauszufiltern, jede Art von Bedeutung ist kontextabhängig, und damit kommt die Notwendigkeit der Interpretation ins Spiel, die stets auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist. Eine Welt der Informationstransparenz wird zwangsläufig eine sein, in der verwirrend viele Ansichten zu finden sind, durchsetzt mit Falschinformationen, Desinformationen, Verschwörungstheorien oder einfach dem ganz alltäglichen Wahnsinn. Möglicherweise erfahren wir schneller, was auf der Welt geschieht, aber das heißt nicht, dass wir auch dieselbe Wahrnehmung der Dinge entwickeln.
    Mit großer Überzeugungskraft und schriftstellerischer Brillanz verfasste Orwell eine der bekanntesten Dystopien überhaupt. Mitunter hört man die Auffassung, er hätte uns mit seiner rigorosen und furchtlosen Fiktion in der

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