Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Realität einiges erspart. Und ich möchte glauben, dass dem so ist. Doch dieGeschichte neigt dazu, noch den durchdachtesten fiktiven Szenarien die Grundlage zu entziehen. Dystopien sind kaum realer als Utopien. Niemand von uns wird jemals dort leben – es sei denn, man begreift die tragischen und alltäglichen Missstände, die an einigen Orten herrschen, als dystopisch.
Das soll jedoch nicht heißen, dass Orwell versagt hätte, im Gegenteil! 1984 liefert immer noch den schnellsten und besten Einblick in die Verhältnisse des Jahres 1948. Will man etwas über eine Zeitepoche erfahren, muss man sich mit ihren schlimmsten Albträumen befassen. Im Spiegel unserer dunkelsten Ängste kommt so manches ans Tageslicht. Man sollte diesen Spiegel aber nicht mit einer Landkarte der Zukunft oder auch nur der Gegenwart verwechseln.
Den Zug nach Ozeanien haben wir verpasst. Dafür müssen wir uns heute seltsameren Problemen stellen.
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Ich glaube immer noch, dass auf dem Weg zur digitalen Singularität im borgesschen Sinne irgendwann alle Informationen enthüllt sein werden.
In der Zwischenzeit erscheint mir jedoch vor allem ein Gedanke in diesem Artikel im Hinblick auf diese Zwischenzeit als besonders vorausschauend, nämlich dass das Netz auch das perfekte Medium für die Verbreitung aller möglichen Verschwörungstheorien und »alternativen Wahrheiten« ist. Seit dem hundertsten Jahrestag von Orwells Geburt konnten wir in dieser Hinsicht einiges erleben, was Orwell sicher als besorgniserregend empfunden hätte.
Die Idee, dass mit der Transparenz auch der Grad der Verrücktheit steigt, stammt nicht von mir. Ich entdeckte sie in dem Buch History in Motion , das 2003 vom Global Business Network herausgegeben wurde. Ich bin schon seit seiner Gründung ein dankbares, wenn auch größtenteils inaktives Mitglied des GBN . Die Mitgliedschaft hat mich mit vielen neuen und oftmals bahnbrechenden Ideen versorgt. Das GBN besaß zudem einen wunderbaren kostenlosen Bücherclub und verschickte ebensowunderbare Pappkartons, in denen ich bis heute meine Manuskripte aufbewahre. Danke, GBN , dass ich all die Jahre ein Mauerblümchen in deinen Reihen sein durfte.
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Ugly Things
2003
Nach Altamont und den Manson-Morden, als das heiße Fett der Sechziger in der plötzlich kalten Pfanne erstarrte, flog ich nach San José, um ein paar Bekannte aus D. C. zu besuchen. Sie waren dorthin gezogen, um eine Band zu gründen. Unter ihnen war Little John, der erste Drummer der Doobie Brothers.
Ich hatte keine Ahnung, wie es in San José aussah – sonst wäre ich wohl nicht dorthin gefahren. Nach einem gruseligen Ausflug nach Haight-Ashbury (die Glanzzeit dieses Viertels, wann immer die gewesen war, hatte ich verpasst), kehrte ich rasch dorthin zurück. Haight-Ashbury war eine einzige Burroughs-Karikatur: Skelettartige Lebensformen auf Speed wuselten geschäftig durch vom Methedrin ausgebombte Straßen. San José war dagegen das ödeste Arbeiter-Bohemia, das man sich vorstellen kann, eine absolut geschmacksfreie Zone, in der die Biker noch den größten Stilwillen an den Tag legten. Das Gras war dort mit PCP versetzt, aufregend, aber nicht wirklich angenehm. Kein ganz ungefährlicher Ort also, aber ansonsten so sterbenslangweilig, dass ich schon fürchtete, vor lauter Depressivität nicht mehr von dort wegzukommen.
Eines Abends brach ich mit Little John und zwei Bekannten, die später Chez Doobie gründen sollten, zu einem Spaziergang auf. Etwa einen Straßenblock von ihrem Haus entfernt begegneten wir einer erstaunlichen Gestalt. Hochgewachsen, gut aussehend und auf magische Weise elegant, wurde mir die Erscheinung als Skip Spence, ehemaliges Mitglied von Moby Grape, vorgestellt.
Sein Outfit war das perfekteste Beispiel für Country Music Hip, das mir je untergekommen war, und bis heute habe ich nichts Vergleichbares gesehen. Es hatte nichts mit Nudie oder Flying Burrito zu tun, sondern war eher klassisch mit einem gewissen Etwas, verwurzelt in der Hardcore-Rodeo-Esoterik, von der ich während meiner Schulzeit in Tucson einen kleinen Eindruck gewonnen hatte. Das Jackett stammte möglicherweise von Filson, einem Ausstatter in Seattle, und bestand aus Reitdrillich, jedoch mit einem westlichen Business-Schnitt, nicht leger. Darunter trug er ein weißes, geknöpftes Businesshemd aus Supima-Baumwolle (die werden immer aus Supima gemacht) mit geschlossenem Kragen und ohne Schlips. Sein Hut, tja, ich wusste genug über Cowboyhüte, um zu wissen, dass
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