Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Überbleibsel der Fin de siècle -Dekadenz Tokios. Ein Nostalgieobjekt.
Die Blase, dachte ich, als ich mit einer Schachtel Sushi und einer Flasche Bikkle aus einem teuren Spirituosengeschäft zumHotel zurücklief, hielt für Japan das nächste große Trauma bereit. Das nach dem Krieg verpflanzte industrielle Gewebe aus Amerika zeigte nicht sofort Wirkung. In den Achtzigern war es dann endlich soweit, doch der Wirtschaft ging irgendwann der Treibstoff aus.
Nach einem knappen Jahrzehnt der Stagflation (der letzte Schicksalsschlag des Jahrhunderts) sieht die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde immer noch wie der reichste Ort der Welt aus, aber die Energien haben sich verlagert, die globalen Ley-Linien von Geld und Geschäftemacherei sich unsichtbar neu ausgerichtet. Und das ist zu spüren. Irgendwo. Hier. Unter der Autobahn, die Andrei Tarkowski einst als Kulisse für seinen Science-Fiction-Film Solaris benutzte.
Am nächsten Tag treffe ich in der Filiale von Tokyu Hands in Shibuya auf Douglas Coupland, der ebenfalls aus Vancouver stammt. Tokyu Hands ist ein acht Stockwerke umfassendes Handelszentrum für den Hobby- und Handwerksbedarf, wobei dort selbst Diamantschneiden als Hobby gilt. Coupland macht mich mit Michael Stipe bekannt. Während Coupland selbst wie ich einen Jetlag hat, leidet Stipe nach eigener Aussage eher unter einem »Clublag«. Er war in der letzten Nacht erst um zwei Uhr im Bett. Und wie gefällt ihm Tokio? »Es rockt«, sagt Stipe.
Später, nach einem Ausflug zu Kiddy Land in Harajuku – ein Laden, in dem ebenfalls auf acht Stockwerken Spielzeug verkauft wird, wie man es bei Toys’R’us vergeblich suchen würde –, bemerke ich am Bahnhof von Harajuku einen Schwarm junger Manga-Krankenschwestern, Mädchen mit kniehohen schwarzen Plateaustiefeln, schwarzen Jodhpurs, schwarzen Lara-Croft-Tops und offenen, sorgfältig gestärkten Laborkitteln, mit Stethoskopen um den Hals.
Ein Stethoskop ist für diesen Look offenbar unabdingbar.
Sie hängen am Bahnhof Harajuku herum, rauchen Zigaretten, telefonieren mit ihren kleinen Handys und lassen sich begaffen. Ich schleiche eine Weile um sie herum, in der Hoffnung bei einem der Kostüme einen Stomabeutel oder Katheter zu entdecken, aber der Dresscode scheint hier, wie bei vielen anderen Looks, komplett genormt zu sein. Sie tragen alle denselben schwarzen Lippenstift, unter dem in der Mitte das Rosa der Lippen hervorscheint.
Auf dem Weg zurück ins Hotel denke ich über die Krankenschwestern nach. Über Träume und die Schnittstelle zwischen dem Privaten und dem in der Öffentlichkeit Zulässigen. In Tokio darf man das: als junges Mädchen im Bondage-Krankenschwestern-Outfit auf die Straße gehen. Man darf in der Öffentlichkeit träumen. Und zwar deshalb, weil es eine der sichersten Städte der Welt ist und es für solche Dinge dort sogar eine eigene Zone gibt – Harajuku. So war es zu Zeiten der Blase, und so ist es heute noch, trotz Drogen, Slackern und Globalisierung. Dadurch, dass die Japaner mehrfach zwangsweise in die Zukunft katapultiert wurden, haben sie gelernt, ihre Gesellschaft auf eine Weise zusammenzuhalten, wie wir es uns noch nicht einmal vorstellen können. Sie machen sich keine Sorgen – jedenfalls nicht so wie wir. Die Manga-Krankenschwestern stellen für sie keine Bedrohung dar; es gibt einen Ort für sie und für alles, was danach kommen sollte.
Meinen letzten Abend verbringe ich mit Coupland und einem Freund in Shinjuku. Man muss sie einfach gesehen haben, diese namenlosen, neonbeleuchteten Straßen, die mit allen möglichen Arten elektronischer Werbung gepflastert sind. Die Werbespots auf den grotesk-breiten LED-Bildschirmen, deren gestochen scharfe Bilder vom Sprühregen abgedämpft werden. Von Fernsehen verstehen die Japaner was: Sie wissen, ein Bildschirm muss nur groß genug sein, um cool zu sein.
Die französischen Situationisten, die über die »Gesellschaft des Spektakels« schrieben, hatten keine Ahnung. Diese Gesellschaft existiert genau hier, und ich finde sie großartig. Shinjuku bei Nacht ist einer der verwirrend schönsten Orte der Welt und zugleich irgendwie der albernste aller schönen Orte – eine unschlagbare Mischung.
Und heute Nacht, während ich die Japaner inmitten all dieses elektronischen Kitsches beobachte, dieser willkürlich überlappenden Medien, dem chaotisch konstanten Neonsturm aus Marketinggedöns, weiß ich es plötzlich: Japan ist immer noch die Zukunft, und wenn das Schwindelgefühl
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