Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
auch nicht zwangsläufig unsere Zukunft, aber trotzdem: definitiv ja. Die Japaner lieben »futuristische« Dinge deshalb, weil sie schon so lange in der Zukunft leben. Die Geschichtsschreibung – ebenfalls eine Form der fantastischen Literatur – bietet eine Erklärung dafür.
Die Japaner, müssen Sie wissen, wurden in den letzten hundertfünfzig Jahren von einer ganzen Reihe nationaler Traumata, die einen tiefgreifenden und beinahe unablässigen Wandel nach sich zogen, gewaltsam in die Zukunft katapultiert. Für Japan war das 20. Jahrhundert wie ein Ritt auf einem Raketenschlitten, dessen Antriebsstufen unaufhörlich spontan zündeten.
Die Japaner haben eine seltsame Reise hinter sich, was wir oft vergessen.
1854 beendete die Kanonenboot-Diplomatie von Commodore Perry zweihundert Jahre der selbst auferlegten Isolation – eine Verlängerung der feudalen Traumzeit. Die Japaner begriffen,dass Amerika die Zukunft in seiner Gesäßtasche mit sich führte. Für Japan war das der ultimative Cargo-Kult: die Ankunft einer fremdartigen Technologie.
Die damaligen Anführer Japans – der Kaiser, die Adligen seines Hofstaats, die Edelleute und Reichen – waren davon verzaubert. Es musste ihnen vorgekommen sein, als seien ihre Besucher aus einem Riss im Realitätsgefüge hervorgetreten. Stellen Sie sich den Roswell-Zwischenfall als erfolgreiche Handelsmission vor. Stellen Sie sich vor, wir erwerben sämtliche Technologien der Grauen, die wir uns leisten können, ohne etwas nachbauen zu müssen. Und anders als beim Cargo-Kult funktionierten diese Technologien tatsächlich.
Wahrscheinlich verloren die Japaner zwischenzeitlich komplett den Verstand, rafften sich dann jedoch auf und machten weiter. Die Industrielle Revolution kam für sie als Modellbausatz: Dampfschiffe, Eisenbahn, Telegrafie, Fabriken, westliche Medizin, Arbeitsteilung – ganz zu schweigen von einem maschinell aufgerüsteten Militär und dem politischen Willen, es auch einzusetzen. Als Resultat kehrten die Amerikaner zurück und bombardierten Asiens erste Industrienation mit dem Licht von tausend Sonnen – und das zweimal –, und damit endete der Krieg.
Kurz darauf trafen die Aliens massenweise in Japan ein, diesmal mit Aktenkoffern und Plänen im Gepäck, um die japanische Gesellschaft von Grund auf umzugestalten. Bestimmte zentrale Aspekte des feudal-industriellen Kerns blieben erhalten, während in andere Bereiche von Politik und Wirtschaft eine Menge amerikanisches Gewebe verpflanzt wurde. Zahlreiche Hybridformen entstanden …
In meinem Hotel in Akasaka finde ich keinen Schlaf. Ich ziehe mich an und laufe durch eine nicht unangenehm feuchte Nacht nach Roppongi, im Schatten einer von Abgasen verschmutztenAutobahn mit mehreren Ebenen, die mir wie das älteste Bauwerk der Stadt vorkommt.
Roppongi ist eine Zwischenzone, das Land der Gaijin -Bars, die jeden Tag bis spät in die Nacht geöffnet haben. Ich warte an einer Ampel, als ich sie sehe. Vermutlich eine Australierin, jung und von zweckdienlicher Schönheit. Sie trägt äußerst teure und äußerst durchsichtige schwarze Unterwäsche und sonst kaum etwas, abgesehen von einer schwarzen Außenschicht – genauso durchsichtig, hauteng und mikrokurz – und ein bisschen Gold und Diamanten, um potenziellen Kunden deutlich zu machen, in welcher Liga sie spielt. Sie geht an mir vorbei mitten in den Verkehr auf der vierspurigen Straße, und redet dabei in aufgeregtem Japanisch in ihr Handy. Der Verkehr hält gehorsam für diese Gaijin mit ihren schwarzen Wildlederstilettos, die ohne zu zögern bei Rot die Straße überquert. Ich sehe sie auf der anderen Seite ankommen. Der Hirnkrebs-Deflektor ihres schmalen, kleinen Handys schaukelt im Gegentakt zu ihren Hüften. Als die Ampel auf Grün schaltet, überquere ich die Straße und beobachte, wie sie einen Türsteher abklatscht, der aussieht wie Oddjob in einem Paul-Smith-Anzug, sein dünnes Oberlippenbärtchen auf den Mikrometer genau rasiert. Als ihre Handflächen einander berühren, blitzt etwas Weißes auf. Gefaltetes Papier. Junkie-Origami.
Dieses Gespenst der Blase, diese Erinnerung an eine Zeit, als Tokio noch der Leitstern für sämtliche Prostituierte der ganzen Welt war, spaziert weiter und verschwindet dann in einem Hauseingang nahe der Sugar Heel Bondage Bar. Das letzte Mal besuchte ich Tokio auf dem Höhepunkt dieser Ära, kurz vor dem Niedergang, als es Mädchen wie sie in großer Zahl gab. Nun ist sie ein Teil der Vergangenheit, ein
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