Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
nachgelassen hat, dann heißt das nur, dass sie es aus dem Tunnel des vorschnell beschleunigten Wandels hinausgeschafft haben. Tokio ist die erste Stadt, die ohne nennenswerte Schwierigkeiten im neuen Jahrhundert angekommen ist – die modernste Stadt der Welt.
In einer Welt des permanenten, technikinduzierten Wandels besitzen die Japaner einen entscheidenden Vorteil: Sie haben gelernt, damit zu leben. Ein solcher Wandel wird nicht von Gesetzesänderungen ausgelöst, er geschieht einfach, und das erfahren die Japaner schon seit mehr als hundert Jahren.
An diesem Abend sehe ich sie, wie sie sich selbstbewusst und wissend im Schein der riesigen Fernseher bewegen, sich verabreden und ihr Leben leben. Nun sind sie endlich in ihrer Heimat angelangt, dem 21. Jahrhundert.
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Beim Lesen dieses Textes beschleicht mich das Gefühl, dass ich Wired eigentlich noch einen Essay über Tokio schulde.
Nicht so sehr, weil ich hier schamlos den besten Teil meines Observer-Artikels wiederaufwärme, den Sie vermutlich schon gelesen haben, sondern weil damals die Literatur dem Sachtext im Weg stand. Sämtliche interessanten Dinge, die ich in Tokio zu der Zeit entdeckte (abgesehen von der Australierin, die die Straße überquert), fanden ausschließlichEingang in Mustererkennung , den Roman, an dem ich damals schrieb. Cayces Tokio in Mustererkennung ist das Tokio, das ich auf Kosten von Wired besuchte. Damals konnte ich meine Beobachtungen für Wired nicht verarbeiten. Der Ort in meinem Inneren, wo meine Texte entstehen, war vollständig belegt. Und die Oberflächlichkeit meiner Betrachtungen in diesem Essay ist darauf zurückzuführen, dass in mir einfach kein Platz mehr war, wo ich die nötige Arbeit hätte erledigen können. Ich hätte mir ein paar Wege offen lassen sollen, aber letztlich brachte ich dann doch nur einen Text zustande, der irgendwie lieblos heruntergeschrieben klingt.
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The New York Times
Juni 2003
Als ich neulich, auf der Suche nach einem Restaurant, die Henrietta Street im Londoner Covent Garden entlanglief, musste ich an George Orwell denken. 1984, als mein erster Zukunftsroman erschien, hatte Victor Gollancz Ltd. – der Verlag, der auch Orwells Frühwerk verlegt hatte – seinen Sitz in eben dieser Straße gehabt.
Damals hatte ich das Gefühl, mein ganzes Leben in düsterer Erwartung dieses mythischen Jahres verbracht zu haben – für den Buchtitel hatte Orwell die letzten beiden Ziffern des Jahres, in dem sein Buch vollendet wurde, einfach umgedreht. Es war ein seltsames Gefühl, das Jahr 1984 tatsächlich zu erleben. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es sogar noch merkwürdiger war als die Ankunft im 21. Jahrhundert.
1984 besaß ich jedoch ein wertvolles Geheimnis, das ich zum großen Teil Orwell zu verdanken habe, der heute 100 Jahre alt geworden wäre: Ich wusste, dass der Roman, den ich geschrieben hatte, nicht wirklich von der Zukunft handelte, so wie es in 1984 auch nicht um die Zukunft ging, sondern um das Jahr 1948. Ich hatte wenig Befürchtungen, mich irgendwann in der von Orwell beschriebenen autoritären Gesellschaft wiederzufinden. Meine Zukunftsängste waren auf andere Dinge gerichtet, und so ist es bis heute geblieben.
An der Henrietta Street sieht man inzwischen allerorten die rechteckigen Überwachungskameras über den Schaufenstern der Geschäfte hängen. Orwell hätten sie an die Schriften Jeremy Benthams erinnert, den utilitaristischen Philosophen, Strafvollzugstheoretikerund geistigen Vater des panoptischen Überwachungsprojekts. Für mich wohnen ihnen dagegen noch weitaus sonderbarere Möglichkeiten inne. Die Straße selbst scheint einen Sinnesapparat entwickelt zu haben, im Dienste eines Metaprojekts, das die Vorstellungskraft derjenigen, die dieses geschlossene Überwachungssystem entworfen haben, bei Weitem übersteigt.
Orwell kannte die Macht der Presse, unser erstes modernes Massenmedium, und bei der BBC lernte er das erste elektronische Medium – das Radio – und dessen Propagandamöglichkeiten kennen. Er starb, bevor das Fernsehen weite Verbreitung fand, aber wenn er es noch miterlebt hätte, wäre er von der Entwicklung wohl kaum überrascht gewesen. In 1984 stehen die Übertragungsmedien im Dienste eines totalitären Staates, so wie im Irak von Saddam Hussein oder in Nordkorea heute – technologisch rückständige Gesellschaften, in denen Informationen noch überwiegend von großen Sendern verbreitet werden. Die Abhängigkeit von zentralisierten
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