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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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feuchte, alte Truhe. Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete sie, fand darin aber lediglich ein paar verblasste Lithographien (jedenfalls vermute ich heute, dass es welche waren) von Flugzeugen. Das waren jedoch Flugzeuge, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, und ihr Anblick fesselte mich auf besondere Weise. Sie waren alt, ganz offensichtlich aus einer anderen Ära, aber auch faszinierend und irgendwie furchterregend. Während ich so auf dem Boden kauerte und sie betrachtete, hatte ich das Gefühl, ein gewaltiger Keil aus Informationen würde in meinen Kopf getrieben. Fetzen von Halbwissen fügten sich in meinem Kopf zu einem neuen und völlig unerwarteten Ganzen zusammen. Wie durch Osmose wusste ich bereits, dass es einen Krieg gegeben hatte, auch wenn mir nicht ganz klar war, wann oder gegen wen. Wann immer die Erwachsenen von »dem Krieg« sprachen, klang das für mich nach einer längst vergangenenEpoche oder mir unzugänglichen Welt. Ich hatte Comics über den Krieg gelesen und mit Militärspielzeug gespielt, was diese aber mit der echten Vergangenheit zu tun hatten, war mir schleierhaft.
    In dieser Truhe hatte ich den Zweiten Weltkrieg gefunden. Ich hatte die Geschichte entdeckt, oder sie mich, und danach war ich nicht mehr derselbe Mensch.
    Die Science Fiction fand ich auf einigen Drahtgitterregalen. Eines enthielt die Classics-Illustrated-Ausgabe von Die Zeitmaschine für fünfzehn Cents – und diese führte mich, der Absicht der Herausgeber gemäß, zu Wells’ Originaltext. Als die Verfilmung von George Pal 1960 in die Kinos kam, hatte ich insgeheim bereits das Gefühl, Die Zeitmaschine gehöre zu mir, sei ein Teil meiner persönlichen, wachsenden Sammlung von Alternativuniversen, und niemand sonst im Kino würde den Film wirklich verstehen.
    Heimlich hatte ich ein liniertes Notizbuch von Blue Horse mit komplizierten Bleistiftskizzen meiner eigenen funktionstüchtigen Zeitmaschine gefüllt. Wie ich mich erinnere, ähnelte sie mehr der Maschine in der Classics-Illustrated-Ausgabe als der in George Pals Verfilmung. Die Zeitmaschine in Classics Illustrated sah aus wie das Modell eines Atoms. Ich stellte sie mir jedoch als Teil eines überaus komplexen Gebildes aus verschiedenen, ineinandergeschachtelten Kugeln vor, das die Maschine auf rätselhafte Weise in die Lage versetzte, sich in drei Dimensionen gleichzeitig zu bewegen. Das war nämlich der ganze Trick. Ich hegte damals zwar bereits die Vermutung, dass Zeitreisen physikalisch ausgeschlossen und damit eine Form von Magie waren – etwa so unmöglich, wie seinen eigenen Ellbogen zu küssen (was zumindest theoretisch machbar schien). Ganz eingestehen mochte ich es mir jedoch nicht – die Vorstellung der Zeitreise war einfach zu verlockend, um sie aufzugeben.
    Spezielle Zeitreiseabenteuer oder Paradoxa, über die man sich den Kopf zerbrechen könnte, lagen mir aber fern. Ich erinnere mich nicht, jemals davon geträumt zu haben, die Vergangenheit zu erforschen oder in die Zukunft zu reisen.
    Stattdessen wollte ich gern die Welt der Zeitmaschine besuchen, den Garten der Morlocks. Wells’ viktorianischer Zukunftsalbtraum war mein liebstes Fantasyland geworden. Weil es so weit in der Zukunft existierte, dass es außerhalb der Geschichte stand – denn die Geschichte, nachdem mir ihr Vorhandensein erst einmal bewusst geworden war, verwandelte sich rasch in einen Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.
    Die Geschichte, so erfuhr ich damals am Anfang der 60er-Jahre, geht immer weiter.
    Nach meiner Entdeckung des Zweiten Weltkriegs und der Science Fiction kam ich nicht umhin, mich mit der modernen Geschichte zu beschäftigen. Viele der Science-Fiction-Romane, die ich damals las, stammten von amerikanischen Autoren der 40er- und 50er-Jahre und waren selbst schon historisch. Sie erforderten einen gewissen Anachronismusfilter. Ich studierte die Future-History-Zeitlinie im Anhang der Romane Robert Heinleins und stellte fest, wo sie von der realen Geschichte abwich. Ich filterte unverdauliche Stücke anachronistischer Knorpel aus dieser älteren Science Fiction heraus, und durch meine wachsende Kenntnis darüber, worin die Autoren sich geirrt hatten, gelangte ich zu einem Modell der echten Vergangenheit.
    In einer anderen Truhe, auf dem Dachboden unseres Hauses, hatte ich den Ersten Weltkrieg ausgegraben. Ein wesentlich substanziellerer Fund: Schriftrollen mit den Namen der Gefallenen aus meiner Heimatstadt und einen leicht verrosteten, aber

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