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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sagte ich. »Was geschah danach noch? Ich möchte den Rest Ihrer Geschichte hören.«
    Er sah mich einen Augenblick lang an.
    »Wie wäre es dann damit?« fragte er. »Es wird für mich wirklich spät, also warum begleiten Sie mich nicht zur Bushaltestelle? Für eine kurze Zusammenfassung müßte die Zeit bis dahin wahrscheinlich genügen.«
    Wir verließen zusammen das Haus und machten uns auf den Weg zur Haltestelle.
    »Am dritten Morgen wurde ich von Korporal Honda gerettet. Er hatte in jener Nacht gespürt, daß die Mongolen kommen würden, war aus dem Zelt geschlichen und hatte sich versteckt. Er hatte das Dokument aus Yamamotos Mappe mitgenommen. Er handelte so, weil unsere vorrangigste Pflicht war, um jeden Preis dafür zu sorgen, daß das Dokument nicht in feindliche Hände geriet. Zweifellos fragen Sie sich, warum Korporal Honda, wenn er doch wußte, daß die Mongolen kamen, allein weglief, statt uns zu wecken und uns zu ermöglichen, gleichfalls zu fliehen. Die einfache Antwort ist die, daß wir in dieser Situation keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Sie wußten, daß wir da waren. Sie befanden sich auf eigenem Territorium. Sie waren uns zahlenmäßig und von der Bewaffnung her weit überlegen. Es wäre für sie ein Kinderspiel gewesen, uns aufzuspüren, uns zu töten und das Dokument an sich zu nehmen. Unter den gegebenen Umständen hatte Korporal Honda keine andere Wahl gehabt, als allein zu fliehen. Im Gefecht wäre seine Handlungsweise ein klarer Fall von Feigheit vor dem Feind gewesen, aber bei einem Spezialauftrag wie dem unseren ist die wichtigste militärische Tugend Einfallsreichtum.
    Er sah alles mit an. Er sah, wie sie Yamamoto die Haut abzogen. Er sah die mongolischen Soldaten mit mir davonreiten. Aber er hatte kein Pferd mehr, und so konnte er uns nicht direkt folgen. Er mußte zu Fuß nachkommen. Er grub die Vorräte wieder aus, die wir in der Wüste versteckt hatten, und vergrub an derselben Stelle das Dokument. Dann machte er sich auf die Suche nach mir. Aber mich in dem Brunnen zu finden kostete ihn unendliche Mühe. Er wußte nicht einmal, welche Richtung wir eingeschlagen hatten.«
    »Wie hat er denn den Brunnen gefunden?« fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Leutnant Mamiya. »Er sagte darüber nicht viel. Er wußte es plötzlich einfach, würde ich annehmen. Als er mich gefunden hatte, zerriß er seine Kleidung in Streifen und knotete daraus ein langes Seil. Mittlerweile war ich praktisch bewußtlos, was es für ihn um so schwieriger machte, mich hinaufzuziehen. Dann fand er irgendwie ein Pferd und setzte mich darauf. Er brachte mich über die Dünen, über den Fluß und zurück zum Vorposten der mandschurischen Armee. Dort versorgte man meine Wunden und legte mich in einen Lastwagen, den das Hauptquartier geschickt hatte. Der brachte mich nach Hailar ins Lazarett.«
    »Was wurde aus diesem Dokument oder Brief, oder was immer das war?«
    »Es schlummert wahrscheinlich noch immer dort in der Erde in der Nähe des Chalcha. Für Korporal Honda und mich kam es natürlich nicht in Frage, den ganzen Weg zurück zu machen und es wieder auszugraben, und überhaupt hätten wir keinen Grund gesehen, diese Mühe auf uns zu nehmen. Wir gelangten zu dem Schluß, daß ein solches Schreiben nie hätte existieren dürfen. Wir stimmten miteinander ab, was wir der Armee erzählen würden. Wir beschlossen, komme, was da wolle, bei der Aussage zu bleiben, von irgendeinem Geheimdokument hätten wir nie etwas gehört. Andernfalls würde man uns wahrscheinlich dafür zur Rechenschaft ziehen, daß wir es nicht aus der Wüste zurückgebracht hatten. Man hielt uns - angeblich zwecks ärztlicher Behandlung- in getrennten Zimmern unter strenger Bewachung und verhörte uns täglich. Tag für Tag kamen diese hohen Offiziere zu uns und ließen sich unsere Geschichte immer wieder von vorn erzählen. Sie stellten exakte, sehr geschickte Fragen. Aber sie schienen uns Glauben zu schenken. Ich gab ihnen einen ausführlichen Bericht meiner Erlebnisse, achtete allerdings darauf, jedes Detail auszusparen, das mit dem Dokument zusammenhing. Als sie endlich alles aufgeschrieben hatten, schärften sie mir ein, dies sei eine Angelegenheit von höchster Geheimhaltungsstufe: Sie werde in keinem offiziellen Militärbericht erscheinen, und ich dürfe vor niemandem ein Wort darüber verlieren, andernfalls müsse ich mit einer strengen Bestrafung rechnen. Zwei Wochen später wurde ich wieder auf meinen ursprünglichen Posten

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