Mister Aufziehvogel
angesichts dieser grauenerregenden sowjetischen Panzereinheiten, selbst als ich meine linke Hand verlor, selbst in der Hölle der sowjetischen Gefangenenlager empfand ich nichts weiter als eine Art Benommenheit. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber nichts davon spielte auch nur die geringste Rolle. Etwas in mir war bereits tot. Vielleicht hätte ich wirklich, wie ich es damals empfunden hatte, in diesem Licht sterben, einfach zergehen sollen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich hätte sterben sollen. Aber wie Herr Honda vorausgesagt hatte, starb ich dort nicht. Oder vielleicht sollte ich sagen: konnte ich dort nicht sterben.
So kehrte ich nach Japan zurück - meiner Hand und zwölf kostbarer Jahre beraubt. Als ich in Hiroshima ankam, waren meine Eltern und meine Schwester schon lange tot. Man hatte meine kleine Schwester in eine Fabrik gesteckt, und dort war sie auch, als die Bombe fiel. Mein Vater war gerade auf dem Weg dorthin gewesen, um sie zu besuchen, und auch er verlor sein Leben. Der Schock warf meine Mutter aufs Krankenlager; nach langem Leiden starb sie 1947. Wie ich Ihnen schon sagte, war das Mädchen, mit dem ich mich heimlich verlobt hatte, inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet und hatte zwei Kinder zur Welt gebracht. Auf dem Friedhof fand ich mein eigenes Grab. Es war mir nichts geblieben. Ich fühlte mich vollkommen leer, und ich erkannte, daß ich nicht hätte zurückkehren dürfen. Ich kann mich kaum erinnern, wie mein Leben seitdem verlaufen ist. Ich wurde Lehrer und unterrichtete an der Oberschule Erdkunde und Geschichte, aber ich war nicht im eigentlichen Sinne des Wortes am Leben. Ich erfüllte einfach die praktischen täglichen Aufgaben, die mir aufgetragen wurden, eine nach der anderen. Ich habe nie einen wirklichen Freund gehabt, nie irgendwelche emotionalen Bindungen an meine Schüler. Ich habe nie wieder einen Menschen geliebt. Ich wußte nicht mehr, was es bedeutete, einen Menschen zu lieben. Ich schloß die Augen und sah Yamamoto, der bei lebendigem Leib gehäutet wurde. Ich träumte immer wieder davon. Immer wieder sah ich zu, wie sie ihm die Haut abschälten und ihn in einen leblosen Fleischklumpen verwandelten. Ich konnte seine herzzerreißenden Schreie hören. Ich träumte auch, ich verwese langsam, bei lebendigem Leib, auf dem Grund dieses Brunnens. Bisweilen hatte ich das Gefühl, das sei wirklich geschehen und mein jetziges Leben sei in Wirklichkeit der Traum. Als Herr Honda mir am Ufer des Chalcha eröffnete, ich würde nicht auf dem Kontinent sterben, war ich überglücklich. Es war keine Frage von Glauben oder Nichtglauben: Ich wollte mich damals an irgend etwas klammern, was es auch sein mochte. Herr Honda wußte das wahrscheinlich, und er wollte mir mit seinen Worten Mut machen. Aber Glück oder Freude war mir nicht beschieden. Nach meiner Rückkehr nach Japan lebte ich wie eine leere Hülse. Wie eine leere Hülse zu leben ist kein wirkliches Leben, wie viele Jahre es auch währen mag. Das Herz und das Fleisch einer leeren Hülse bringen nichts anderes hervor als das Leben einer leeren Hülse. Das war es, was ich Ihnen begreiflich zu machen hoffte, Herr Okada.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte ich unsicher, »daß Sie nach Ihrer Rückkehr nach Japan nie geheiratet haben?«
»Natürlich nicht«, antwortete Leutnant Mamiya. »Ich habe keine Frau, keine Eltern und keine Geschwister. Ich bin vollkommen allein.«
Nach kurzem Zögern fragte ich: »Bedauern Sie es, Herrn Hondas Weissagung gehört zu haben?«
Jetzt war es an Leutnant Mamiya zu zögern. Nach kurzem Schweigen sah er mir offen ins Gesicht. »Vielleicht ja«, sagte er. »Vielleicht hätte er diese Worte niemals aussprechen dürfen. Vielleicht hätte ich sie niemals hören dürfen. Wie Herr Honda damals sagte, ist das Schicksal etwas, worauf man im nachhinein zurückblickt, und nichts, was man im voraus weiß. Eines glaube ich allerdings: Jetzt spielt es so oder so keine Rolle mehr. Jetzt tue ich nichts anderes, als meine Pflicht zu erfüllen, weiterzuleben.«
Der Bus erschien, und Leutnant Mamiya beehrte mich mit einer tiefen Verbeugung. Dann entschuldigte er sich dafür, meine kostbare Zeit in Anspruch genommen zu haben. »Nun, jetzt muß ich mich auf den Weg machen«, sagte er. »Ich danke Ihnen für alles. Ich bin auf alle Fälle froh, daß es mir möglich war, Ihnen Herrn Hondas Paket auszuhändigen. Das bedeutet, daß mein Auftrag endlich erledigt ist. Jetzt kann ich unbesorgt nach Haus
Weitere Kostenlose Bücher