Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
beordert, und ich nehme an, daß auch Korporal Honda zu seiner Einheit zurückkehrte.«
    »Eins ist mir noch unklar«, sagte ich. »Warum hatte man sich überhaupt die Mühe gemacht, für diesen Auftrag Herrn Honda von einer anderen Einheit anzufordern?«
    »Darüber hat er nie viel gesagt. Wahrscheinlich hatte man ihm verboten, darüber zu sprechen, und er dachte vermutlich, es sei besser für mich, wenn ich nichts wüßte. Aber nach allem, was ich im Laufe unserer Gespräche erfahren habe, würde ich annehmen, daß zwischen ihm und diesem Mann, den sie Yamamoto nannten, irgendeine engere Beziehung bestand - eine Beziehung, die mit seinen besonderen Fähigkeiten zusammenhing. Ich hatte oft gehört, innerhalb der Armee gebe es eine Einheit, die sich ausschließlich mit der Untersuchung okkulter Phänomene befaßte. Angeblich schaffte man Menschen mit solchen geistigen oder psychokinetischen Kräften aus dem ganzen Land dorthin und führte mit ihnen allerlei Experimente durch. Ich könnte mir vorstellen, daß Herr Honda Yamamoto in diesem Zusammenhang kennenlernte. Jedenfalls wäre Herr Honda ohne seine besonderen Fähigkeiten niemals imstande gewesen, mich im Brunnen zu finden und mich anschließend mit nachtwandlerischer Sicherheit zum Vorposten der Armee von Mandschukuo zu führen. Er hatte weder Karte noch Kompaß, und trotzdem fand er den kürzesten Weg dorthin, ohne sich auch nur ein einzigesmal orientieren zu müssen. Nach landläufigen Maßstäben hätte man dies als völlig unmöglich bezeichnen müssen. Ich war professioneller Kartograph, und ich hatte recht genaue geographische Vorstellungen von der Region, aber was er leistete, hätte ich niemals zustande gebracht. Diese Fähigkeiten waren es wahrscheinlich, die Yamamoto an Herrn Honda interessierten.« wir erreichten die Bushaltestelle und warteten.
    »Einiges wird natürlich immer ein Rätsel bleiben«, sagte Leutnant Mamiya. »Vieles ist mir bis heute nicht klar. Ich weiß noch immer nicht, wer dieser einsame mongolische Offizier war, der in der Wüste zu uns stieß. Und ich frage mich, was geschehen wäre, wenn wir es tatsächlich geschafft hätten, dieses Dokument zum Hauptquartier zu bringen. Und warum ließ uns Yamamoto nicht einfach auf dem rechten Ufer des Chalcha zurück und ging allein auf die andere Seite? Auf diese Weise hätte er sich weit ungehinderter und unauffälliger bewegen können. Vielleicht hatte er uns aber zur Ablenkung der mongolischen Patrouillen dabeihaben wollen, um bei Gefahr allein entkommen zu können. Das wäre immerhin denkbar. Vielleicht hatte Korporal Honda das von Anfang an durchschaut und sah deswegen tatenlos zu, wie die Mongolen Yamamoto abschlachteten. Jedenfalls sollte sehr viel Zeit vergehen, ehe Korporal Honda und ich uns wieder begegneten. Wir wurden in dem Augenblick getrennt, als wir in Hailar eintrafen, und man verbot uns, miteinander ein Wort zu wechseln oder uns auch nur zu sehen. Ich hatte ihm ein letztesmal danken wollen, aber man ließ mir dazu keine Gelegenheit. Er wurde in der Schlacht von Nomonhan verwundet und nach Hause geschickt, während ich bis zum Ende des Krieges in der Mandschurei blieb und anschließend nach Sibirien kam. Es gelang mir erst Jahre später, nach meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft, ihn ausfindig zu machen. Wir trafen uns danach noch ein paarmal, und wir blieben brieflich miteinander in Verbindung. Aber ich hatte den Eindruck, daß er es bewußt vermied, von unseren Erlebnissen am Chalcha zu sprechen, und ich selbst war auch nicht allzu begierig, darüber zu reden. Es war für uns beide einfach eine zu überwältigende Erfahrung gewesen. Wir ertrugen sie gemeinsam, indem wir über sie schwiegen. Können Sie sich das vorstellen?
    Es ist eine sehr lange Geschichte geworden, aber eigentlich wollte ich Ihnen damit nur verständlich machen, warum ich das Gefühl habe, daß das wirkliche Leben für mich in der Tiefe dieses Brunnens, inmitten der Wüste der Äußeren Mongolei geendet haben könnte. Es kommt mir so vor, als habe ich im gleißenden Licht, das täglich gerade zehn oder fünfzehn Sekunden lang den Grund dieses Brunnens erreichte, den Wesenskern, die Essenz meines Lebens aufgezehrt, bis nichts mehr übrigblieb. So unfaßbar war mir dieses Licht. Ich kann es nicht sehr gut erklären, nur soviel kann ich aufrichtig sagen: Was immer mir seitdem begegnet ist, was immer ich seither erlebt habe, hat keinerlei Regung in meinem Herzen mehr auszulösen vermocht. Selbst

Weitere Kostenlose Bücher