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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zu mir drang- doch nur in langen, unregelmäßigen Abständen. Ich war völlig allein, in tiefer Stille und noch tieferer Finsternis ausgesetzt. Gegen den Schmerz ankämpfend, streckte ich die Hand aus und berührte den Boden um mich herum. Der Grund des Brunnens war eben. Es war ein kleiner Kreis, vielleicht anderthalb Meter im Durchmesser oder wenig darüber. Wie ich den Boden abtastete, stieß meine Hand plötzlich auf einen harten, scharfen Gegenstand. Erschrocken zog ich die Hand instinktiv zurück, doch dann streckte ich sie langsam, vorsichtig wieder aus. Wieder kamen meine Finger mit dem scharfen Gegenstand in Berührung. Anfangs dachte ich, es sei ein Ast, aber schon bald erkannte ich, daß ich Knochen berührte. Keine menschlichen Gebeine, die Knochen irgendeines kleinen Tieres, die - sei es durch natürlichen Zerfall, sei es infolge meines Sturzes - verstreut herumlagen. Ansonsten gab es auf dem Grund des Brunnens nichts als Sand: feinen, trockenen Sand.
    Als nächstes strich ich mit der offenen Hand über die Schachtwand. Sie schien aus dünnen, flachen Steinen zu bestehen. So heiß die Oberfläche der Wüste tagsüber auch wurde, gelangte von jener Hitze nichts in diese unterirdische Welt. Die Steine hauchten eisige Kälte aus. Ich ließ die Hand über die Wand gleiten und prüfte die Fugen zwischen den Steinen. Wenn ich da Halt fand, würde ich vielleicht an die Oberfläche klettern können. Aber die Fugen erwiesen sich als zu schmal, und in meinem angeschlagenen Zustand wäre an Klettern ohnehin nicht zu denken gewesen.
    Unter Aufbietung all meiner Kräfte kroch ich näher an die Wand heran und stemmte mich in eine sitzende Position hoch. Jede Bewegung ließ mein Bein und meine Schulter aufschreien, als bohrten sich Hunderte von dicken Nadeln in sie. Noch eine Zeitlang danach meinte ich bei jedem Atemzug, mein Körper würde in Stücke reißen. Ich berührte meine Schulter und spürte, daß sie heiß und geschwollen war.
     
    Wieviel Zeit danach verging, weiß ich nicht. Aber irgendwann geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. Das Licht der Sonne schoß durch die Brunnenöffnung herab wie eine Offenbarung. In diesem einen Moment konnte ich alles sehen, was mich umgab. Der Brunnen war bis an den Rand gefüllt mit strahlendem Licht. Einer Sturzflut von Licht. Es war eine fast erstickende Helligkeit: Ich konnte kaum atmen. Alle Dunkelheit und Kälte waren im Nu verscheucht, und warmes, sanftes Sonnenlicht umhüllte meinen nackten Körper. Selbst der Schmerz, den ich verspürte, schien vom Licht der Sonne gesegnet zu werden, und die weißen Knochen des kleinen Tieres, die neben mir lagen, schimmerten jetzt in einem warmen Licht. Diese Knochen, die ein Omen meines drohenden Schicksals hätten sein können, erschienen im Sonnenlicht eher wie ein freundlicher Gefährte. Ich konnte die Steinmauern sehen, die mich umschlossen. Solange ich in dem Licht verblieb, vermochte ich es, meine Angst, meinen Schmerz und meine Verzweiflung zu vergessen. Ich saß in dem blendenden Licht in sprachlosem Staunen. Dann verschwand das Licht wieder, so plötzlich, wie es gekommen war. Tiefe Finsternis legte sich wieder über alles. Das helle Zwischenspiel war äußerst kurz gewesen. Alles in allem dürfte es vielleicht zehn, höchstens fünfzehn Sekunden lang gedauert haben. Aufgrund des Einfallswinkels war dies ohne Zweifel die einzige Zeitspanne, während der es der Sonne im Laufe eines ganzen Tages gelang, bis auf den Boden dieses Schachts hinabzuleuchten. Die Lichtflut war versiegt, noch ehe ich ihre Bedeutung auch nur ansatzweise hatte fassen können.
    Sobald das Licht verloschen war, umgab mich eine noch tiefere Finsternis als zuvor. Ich konnte mich praktisch nicht bewegen. Ich hatte kein Wasser, kein Essen, nicht einen Fetzen am Leib. Der lange Nachmittag verstrich, und die Nacht brach herein. Schlagartig fiel die Temperatur. Ich bekam kaum ein Auge zu. Mein Körper lechzte nach Schlaf, aber die Kälte zerstach mir die Haut wie mit tausend winzigen Dornen. Mir war, als erstarre mein Lebenskern und sterbe nach und nach ab. Hoch oben über mir konnte ich die eisigen Sterne am Himmel sehen, eine grauenerregende Anzahl von Sternen. Ich starrte zu ihnen hinauf, verfolgte ihre langsame Wanderung. Ihre Bewegung half mir zu erkennen, daß die Zeit noch nicht stehengeblieben war. Ich schlief kurzzeitig ein, erwachte vom Schmerz und der Kälte, schlief ein weiteres Weilchen, wachte dann wieder auf. Endlich kam der

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