Mister Aufziehvogel
den Brunnenboden wie ein Sandsack. Ich glaube, ich war wirklich nur einen Augenblick lang bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, spürte ich etwas wie ein feines Geniesel auf meiner Haut. Anfangs dachte ich, es sei Regen, aber ich irrte mich. Es war Urin. Die mongolischen Soldaten pinkelten alle auf mich, während ich da unten auf dem Grund des Brunnens lag. Ich blickte hinauf und sah, weit über mir, die Silhouetten der Männer, die einer nach dem anderen an den Rand der runden Öffnung traten und ihr Wasser abschlugen. Das Schauspiel hatte etwas erschreckend Unwirkliches, wie eine durch Drogen bewirkte Halluzination. Aber es war Wirklichkeit. Ich lag wirklich auf dem Grund des Brunnens, und sie besprengten mich mit wirklichem Urin. Als sie fertig waren, richtete einer von ihnen den Strahl einer Taschenlampe auf mich. Ich hörte sie lachen. Und dann verschwanden sie vom Rand des Loches. Danach versank alles in tiefem Schweigen.
Eine Zeitlang hielt ich es für das beste, mit dem Gesicht nach unten liegenzubleiben und abzuwarten, ob sie zurückkommen würden. Aber auch nachdem zwanzig, dann dreißig Minuten verstrichen waren (soweit ich es ohne eine Uhr überhaupt beurteilen konnte), tauchten sie nicht wieder auf. Sie waren offenbar davongeritten und hatten mich allein gelassen. Man hatte mich auf dem Grund eines Brunnens mitten in der Wüste verlassen. Sobald klar war, daß sie nicht zurückkehren würden, versuchte ich zunächst einmal festzustellen, ob ich irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte. In dieser völligen Dunkelheit war das keine leichte Aufgabe. Ich konnte meinen eigenen Körper nicht sehen. Ich war außerstande, mit meinen eigenen Augen zu erkennen, in welcher Verfassung ich war. Ich konnte mich nur auf meine anderen Wahrnehmungen stützen, aber ich konnte nicht sicher sein, daß die Wahrnehmungen, die ich in der Dunkelheit hatte, die Wirklichkeit genau widerspiegelten. Ich fühlte mich getäuscht, betrogen. Es war ein sehr seltsames Gefühl.
Nach und nach aber, Stückchen für Stückchen, gewann ich ein Bild von meiner Situation. Als erstes wurde mir bewußt, daß ich außerordentliches Glück gehabt hatte. Der Boden des Brunnens war sandig und vergleichsweise weich. Wäre er es nicht gewesen, hätte ich mir bei einem Sturz aus solcher Höhe jeden Knochen im Leib gebrochen. Ich atmete einmal langsam und tief durch, dann versuchte ich mich zu bewegen. Zuerst meine Finger. Sie gehorchten, wenn auch etwas kraftlos. Dann versuchte ich, mich vom Boden hochzustemmen und mich aufzusetzen, aber das gelang mir nicht. Mein ganzer Körper fühlte sich wie taub an. Ich war bei klarem Bewußtsein, aber mit der Verbindung zwischen meinem Bewußtsein und meinem Körper stimmte etwas nicht. Mein Bewußtsein beschloß, irgend etwas zu tun, aber es gelang mir nicht, den Gedanken in Muskeltätigkeit umzusetzen. Ich gab es auf und blieb eine Zeitlang reglos in der Dunkelheit liegen. Wie lange genau ich still dalag, weiß ich noch heute nicht. Aber nach und nach kehrte meine Körperwahrnehmung allmählich zurück. Und zusammen mit meinen übrigen Wahrnehmungen stellte sich natürlich auch die Empfindung von Schmerz ein. Intensivem Schmerz. Mein Bein war fast sicher gebrochen. Und die Schulter hatte ich mir wohl ausgekugelt oder, wenn das Glück gegen mich war, vielleicht gleichfalls gebrochen.
Ich lag reglos da und gab mich dem Schmerz hin. Ehe ich mich versah, strömten mir Tränen über die Wangen - Tränen des Schmerzes und, mehr noch, der Verzweiflung. Ich glaube nicht, daß Sie sich je werden vorstellen können, wie das ist - die vollkommene Einsamkeit, das Gefühl der Verzweiflung -, verlassen in einem tiefen Brunnen zu liegen, in der Mitte der Wüste, am Rand der Welt, in undurchdringlicher Finsternis von schrecklichen Schmerzen gepeinigt. Ich ging so weit, zu bedauern, daß der mongolische UO mich nicht einfach kurzerhand erschossen hatte. Wenn ich auf die Art gestorben wäre, dann hätten die Soldaten zumindest von meinem Tod gewußt. Wenn ich dagegen hier starb, würde es ein wirklich einsamer Tod sein, ein Tod ohne jede Bedeutung für wen auch immer, ein stummer Tod.
Ab und an hörte ich das Geräusch des Windes. Wie er über die Erdoberfläche dahinstrich, erzeugte er an der Öffnung des Brunnens ein schauriges Geräusch, ein Geräusch wie das Stöhnen einer weinenden Frau aus einer fernen Welt. Miteinander verbunden waren jene Welt und meine durch einen engen Schacht, durch den die Stimme der Frau
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