Mister Aufziehvogel
Morgen. Allmählich begannen die scharfen Nadelstiche von Sternenlicht im Rachen des Brunnens zu verblassen. Aber auch nachdem die Sonne aufgegangen war, verschwanden die Sterne nicht gänzlich. Kaum noch wahrnehmbar, harrten sie weiterhin dort oben aus, immer weiter und weiter. Um meinen Durst zu lindern, leckte ich den Morgentau von den Steinen der Brunnenmauer. Es war natürlich nur eine winzige Menge Flüssigkeit, aber mir schmeckte sie wie eine Gnadengabe des Himmels. Mir kam zu Bewußtsein, daß ich einen ganzen Tag lang weder etwas gegessen noch getrunken hatte. Und dennoch verspürte ich keinerlei Hunger.
Ich blieb da, reglos, auf dem Grund des Lochs. Mehr konnte ich nicht tun. Nicht einmal denken konnte ich, so tief waren mein Gefühl der Verlassenheit und meine Verzweiflung. Ich saß da und tat nichts, dachte nichts. Unbewußt aber wartete ich auf diesen Lichtstrahl, auf diese blendende Flut von Sonnenlicht, die sich für einen winzigen Bruchteil des Tages in den Brunnenschacht ergoß. Es mußte ein Phänomen sein, das sich ziemlich genau um die Mittagszeit ereignete, wenn die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreichte und ihre Strahlen senkrecht auf die Erde sandte. Ich wartete auf die Ankunft des Lichts, auf nichts weiter. Es gab weiter nichts, worauf ich hätte warten können.
Es verging wohl eine lange Zeit. Irgendwann schlief ich ein. Als ich die Anwesenheit von etwas spürte und aufwachte, war das Licht bereits da. Ich merkte, daß ich abermals von diesem überwältigenden Licht eingehüllt wurde. Fast unbewußt breitete ich die Arme aus und empfing die Sonne in meinen offenen Händen. Sie war weit stärker, als sie das erste Mal gewesen war. Und sie blieb viel länger. Wenigstens kam es mir da so vor. Im Licht strömten Tränen aus mir hervor. Mir war, als würde sich jegliche Flüssigkeit meines Körpers in Tränen verwandeln und aus meinen Augen hervorströmen, als könnte mein ganzer Körper auf diese Weise zerschmelzen. Hätte er sich in der Seligkeit dieses überirdischen Lichts ereignen können, wäre selbst der Tod kein Feind mehr gewesen. Ja, ich spürte, daß ich mir zu sterben wünschte. Ich erlebte ein wunderbares Gefühl des Einsseins, ein überwältigendes Gefühl von Ganzheit. Ja, das war es: Der wahre Sinn des Lebens ruhte in diesem wenige Sekunden währenden Licht, und ich spürte, daß ich da, in diesem Augenblick, hätte sterben sollen.
Aber natürlich - noch ehe etwas geschehen konnte, war das Licht vergangen. Und ich war noch immer da, auf dem Grund dieses elenden Brunnens. Dunkelheit und Kälte nahmen mich wieder in Besitz, als wollten sie behaupten, daß überhaupt niemals Licht gewesen sei. Lange blieb ich da, in mich zusammengesunken, das Gesicht tränenüberströmt. Als habe mich eine unendliche Macht zerschmettert, war ich unfähig, das mindeste zu tun oder auch nur zu denken, unfähig, auch nur mein körperliches Dasein zu empfinden. Ich war ein ausgetrockneter Kadaver, der abgeworfene Panzer eines Insekts. Aber da kehrte in den leeren Raum meines Bewußtseins mit einem Mal Korporal Hondas Prophezeiung zurück: Ich würde nicht auf dem Kontinent sterben. Jetzt, da das Licht gekommen und gegangen war, vermochte ich es, an diese Weissagung zu glauben. Ich konnte jetzt an sie glauben, weil ich an einem Ort, an dem ich hätte sterben müssen, und zu einer Zeit, zu der ich hätte sterben müssen, außerstande gewesen war zu sterben.
Es war nicht so, daß ich nicht hätte sterben wollen: Ich konnte nicht sterben. Verstehen Sie, was ich sage, Herr Okada? Welche himmlische Gnade mir in jenem Moment auch zuteil geworden sein mochte, sie war für immer verloren.
An diesem Punkt der Erzählung blickte Leutnant Mamiya auf seine Uhr. »Und wie Sie sehen können«, fügte er leise hinzu, »bin ich hier.« Er schüttelte den Kopf, als versuche er, die unsichtbaren Spinnweben der Erinnerung abzustreifen. »Genau wie Herr Honda gesagt hatte, bin ich nicht auf dem Kontinent gestorben. Und von uns vieren, die wir dort waren, habe ich am längsten gelebt.« Ich nickte wortlos.
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich so lange geredet habe. Es muß sehr langweilig für Sie gewesen sein, einem nutzlosen alten Mann dabei zuzuhören, wie er von den alten Zeiten schwatzt.« Leutnant Mamiya änderte seine Sitzhaltung. »Du meine Güte, wenn ich noch länger bleibe, werde ich meinen Zug verpassen.« Ich beeilte mich, ihn zurückzuhalten. »Bitte, hören Sie nicht an dieser Stelle auf«,
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