Mister Aufziehvogel
Ich stellte die Schaltuhr auf zehn Minuten und spülte derweil die paar Sachen, die ich schmutzig gemacht hatte. Aber selbst als die fertigen Spaghetti vor mir auf dem Teller lagen, verspürte ich keine Lust zu essen. Ich schaffte gerade eben die Hälfte und warf den Rest weg. Die übriggebliebene Sauce füllte ich in einen Behälter um und stellte sie in den Kühlschrank. Nun ja, ich hatte eben von vornherein keinen Appetit gehabt.
Mir war, als hätte ich vor langer Zeit einmal eine Geschichte gelesen, in der ein Mann andauernd ißt, während er darauf wartet, daß etwas Bestimmtes passiert. Nachdem ich mir lange den Kopf darüber zerbrochen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß es Hemingways In einem andern Land gewesen sein mußte. Der Held (den Namen hatte ich vergessen) schafft es, mit dem Boot aus Italien in die Schweiz zu fliehen, und während er in einem kleinen Schweizer Ort darauf wartet, daß seine Frau niederkommt, geht er ständig ins Café gegenüber, um etwas zu trinken oder zu essen. Von der eigentlichen Handlung wußte ich so gut wie nichts mehr. Das einzige, was mir in Erinnerung geblieben war, war diese Passage gegen Ende des Buches, wo der Held sich von Mahlzeit zu Mahlzeit hangelt, während er in einem fremden Land darauf wartet, daß seine Frau ihr Kind bekommt. Daß ich mich so deutlich daran erinnerte, lag anscheinend am großen Realismus dieses Teils des Buches. Es kam mir, literarisch betrachtet, weit realistischer vor, daß die ängstliche Nervosität des Mannes diese abnorme Freßlust hervorrief, als wenn sie ihm den Appetit geraubt hätte.
Anders als In einem andern Land wirkte es auf mich aber keineswegs appetitanregend, in diesem stillen Haus zu sitzen und in Erwartung, daß etwas passierte, die Zeiger der Uhr zu beobachten. Und bald kam mir der Gedanke, daß meine Appetitlosigkeit von einem mir inhärenten Mangel an dieser bestimmten literarischen Realität herrühren könnte. Ich kam mir so vor, als sei ich zu einer Gestalt eines schlecht geschriebenen Romans geworden, als zerpflücke mich jemand wegen meines völligen Irrealismus. Und vielleicht war es tatsächlich so.
Es war fast zwei, als das Telefon endlich klingelte.
»Bin ich mit Okada verbunden?« fragte eine unbekannte männliche Stimme. Es war die Stimme eines jungen Mannes, leise und weich.
»Ja, sind Sie.« Meine Stimme klang dagegen eher etwas angespannt.
»Block zwei, Hausnummer sechsundzwanzig?«
»Genau.«
»Hier spricht das Spirituosengeschäft Omura. Danke, daß wir Sie schon so lange zu unseren Kunden zählen dürfen. Ich fahre jetzt gerade los, um unsere Außenstände zu kassieren, und ich wollte nur hören, ob ich gleich bei Ihnen vorbeikommen könnte.«
»Außenstände?«
»Ja. Nach unseren Unterlagen stehen noch die Zahlungen für zwei Kästen Bier und einen Kasten Saft aus.«
»Ah. Na gut. Ja, ich bin vorerst zu Hause«, sagte ich und beendete damit unser Gespräch.
Nachdem ich aufgelegt hatte, fragte ich mich, ob dieses Gespräch irgendwelche Informationen über Kumiko enthalten hatte. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es war nichts als der kurze, geschäftsmäßige Anruf eines Getränkeladens gewesen, dem ich noch Geld schuldete. Ich hatte bei denen Bier und Saft bestellt, und sie hatten die Sachen geliefert, soviel war sicher. Eine halbe Stunde später stand der Bursche vor der Tür, und ich bezahlte zwei Kästen Bier und einen Kasten Saft.
Der freundliche junge Mann lächelte, während er die Quittung ausstellte. »Ach übrigens, Herr Okada, haben Sie von dem Unfall gehört, heute morgen am Bahnhof? Gegen halb zehn?«
»Unfall?« fragte ich bestürzt. »Wer hat einen Unfall gehabt?«
»Ein kleines Mädchen«, sagte er. »Ist von einem zurücksetzenden Lieferwagen überfahren worden. Soll auch ziemlich schwer verletzt sein. Ich bin da angekommen, als es gerade passiert war. Furchtbar, so etwas am frühen Morgen als allererstes zu sehen. Kleine Kinder machen mir eine Heidenangst: man sieht sie im Rückspiegel überhaupt nicht. Kennen Sie die Reinigung am Bahnhof? Ist direkt davor passiert. Die Leute stellen da ihre Räder ab, und die ganzen Kartons, die da aufgestapelt sind: man sieht rein gar nichts.«
Nachdem er gegangen war, hatte ich das Gefühl, ich könnte keinen Augenblick länger im Haus bleiben. Mit einemmal kam es mir drinnen furchtbar heiß und stickig, dunkel und eng vor. Ich zog mir die Schuhe an und sah zu, daß ich so schnell wie möglich an die Luft kam.
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