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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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überspülte eine kalte Welle meine Füße. Wie man es auch drehte und wendete, es war merkwürdig, daß Kumiko auf dem Weg zur Arbeit Sachen von der Reinigung abgeholt haben sollte. Zum einen hätte sie sich mit frischgebügelten Kleidungsstücken in der Hand in einen überfüllten Pendlerzug quetschen müssen. Am Abend hätte sie dann das gleiche noch einmal machen müssen. Nicht nur hätten die Sachen für sie eine zusätzliche Last bedeutet - durch die zwei Zugfahrten wären sie zudem völlig zerknittert worden. Da ich wußte, wie sehr Kumiko auf solche Dinge achtete, konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie etwas derart Unsinniges getan haben sollte. Sie hätte nur abends nach der Arbeit kurz bei der Reinigung vorbeizugehen brauchen. Oder wenn sie damit rechnete, daß es dafür zu spät werden würde, hätte sie mich bitten können, die Sachen abzuholen. Es gab nur eine einzige denkbare Erklärung: Sie hatte schon gewußt, daß sie nicht nach Hause kommen würde. Sie hatte Rock und Bluse genommen und war damit irgendwohin verschwunden. So hatte sie wenigstens etwas zum Umziehen, und was sie sonst brauchen mochte, würde sie sich kaufen können. Sie hatte ihre Kreditkarten und ihre Bankcard und ihr eigenes Bankkonto. Sie konnte gehen, wohin sie wollte.
    Und sie war mit jemandem zusammen - einem Mann. Sie konnte keinen anderen Grund haben, von zu Hause wegzugehen. Vermutlich.
    Die Sache war ernst. Kumiko war verschwunden und hatte alle ihre Sachen und Schuhe zurückgelassen. Es hatte ihr immer Freude gemacht, sich etwas Neues zum Anziehen zu kaufen; ihre Garderobe hatte ihr immer viel bedeutet. Sie einfach so aufzugeben und mit wenig mehr, als sie am Leib trug, von zu Hause wegzugehen, hätte für sie einen nicht unerheblichen Willensakt bedeutet. Und dennoch war sie, ohne im mindesten zu zögern - wie mir jedenfalls schien -, mit nichts weiter in der Hand als einem Rock und einer Bluse aus dem Haus gegangen. Nein, ihre Garderobe war wahrscheinlich das letzte gewesen, woran sie in dem Augenblick gedacht hatte.
    Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, hörte mit halbem Ohr auf die erbarmungslos sterilisierte Hintergrundmusik und stellte mir vor, wie Kumiko mit ihren Sachen, die noch in der Zellophanhülle der Reinigung auf Drahtbügeln hingen, in einen überfüllten Pendlerzug einstieg. Ich rief mir die Farbe ihres Kleides ins Gedächtnis zurück, den Duft des Eau de Toilette hinter ihren Ohren, die glatte Makellosigkeit ihres Rückens. Ich mußte erschöpft sein. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt die Augen schlösse, triebe ich einfach davon; ich würde an einem völlig anderen Ort landen.

2
    K EINE GUTEN NEUIGKEITEN
     
    Ich verließ das Café und irrte durch die Straßen. Die brütende Nachmittagshitze machte mir allmählich zu schaffen: Ich spürte Übelkeit, sogar ein Frösteln in mir aufsteigen. Aber nach Hause wollte ich jetzt auf keinen Fall. Die Vorstellung, allein in diesem schweigenden Haus auf einen Anruf zu warten, der wahrscheinlich niemals kommen würde, benahm mir den Atem.
    Mir fiel nichts anderes ein, als May Kasahara zu besuchen. Ich kehrte nach Hause zurück, kletterte über die Mauer und ging die Gasse entlang bis zum Gartentörchen. Ich lehnte mich an den Zaun des leerstehenden Hauses auf der anderen Seite der Gasse und starrte in den Garten mit der Vogelplastik. Wenn ich hier so stehen blieb, würde May mich bald sehen. Abgesehen von den paar Stunden, die sie gelegentlich für die Perückenfirma arbeiten ging, war sie immer zu Hause und bewachte von ihrem Zimmer oder vom Garten aus die Gasse. Aber May Kasahara ließ sich nicht blicken. Am Himmel war keine einzige Wolke. Die Sommersonne röstete mir den Nacken. Der schwere Geruch von Gras, der vom Boden aufstieg, füllte mir die Lunge. Ich starrte die Vogelstatue an und versuchte, über die Schicksale der Bewohner dieses Hauses nachzudenken, von denen mir mein Onkel neulich erzählt hatte. Aber das einzige, woran ich denken konnte, war das Meer: kalt und blau. Mehrmals atmete ich langsam und tief durch. Ich sah auf die Uhr. Ich war schon bereit, es für heute aufzugeben, als May Kasahara endlich herauskam. Sie schlenderte durch ihren Garten gemächlich auf mich zu. Sie trug Jeans-Shorts, ein blaues Hawaiihemd und rote Badeschlappen. Sie blieb vor mir stehen und lächelte mir durch die Sonnenbrille zu. »Hallo, Mister Aufziehvogel. Ihren Kater gefunden - Noboru Wataya?«
    »Noch nicht«, sagte ich. »Warum hat’s heut so lang gedauert,

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