Mister Aufziehvogel
wirklich so, daß Kumiko mich verlassen hatte - einen Grund dafür wußte ich zwar nicht, aber es war zumindest eine Möglichkeit. Aber selbst, wenn es sich so verhalten sollte, war sie nicht der Mensch, der ohne ein Wort verschwindet. Sie würde sich bemühen, mir ihre Gründe so genau wie möglich auseinanderzusetzen. Dessen war ich mir hundertprozentig sicher.
Aber dann konnte sie einen Unfall gehabt haben. Sie konnte angefahren und ins Krankenhaus gebracht worden sein. Sie konnte in diesem Moment bewußtlos sein und eine Bluttransfusion bekommen. Bei diesem Gedanken begann mein Herz zu hämmern, aber ich wußte, daß sie ihren Führerschein und ihre Kreditkarten und ihr Adressenbüchlein dabeihatte. Das Krankenhaus oder die Polizei hätten mich mittlerweile verständigt.
Ich setzte mich auf die Veranda und schaute in den Garten, aber in Wirklichkeit sah ich überhaupt nichts an. Ich versuchte nachzudenken, aber ich konnte mich auf keinen Gedanken konzentrieren. Nur eins ging mir immer und immer wieder durch den Kopf: Kumikos Rücken, als ich den Reißverschluß ihres Kleides hochgezogen hatte - ihr Rücken, und der Duft des Eau de Toilette hinter ihren Ohren. Es war schon nach eins, als das Telefon klingelte. Ich stand vom Sofa auf und nahm ab.
»Verzeihung, aber bin ich möglicherweise mit dem Anschluß von Herrn Toru Okada verbunden?« fragte eine Frauenstimme. Es war Malta Kano. »Richtig«, sagte ich.
»Mein Name ist Malta Kano. Ich rufe wegen des Katers an.«
»Des Katers?« sagte ich etwas verwirrt. Ich hatte ihn völlig vergessen. Jetzt erinnerte ich mich natürlich wieder, aber wie an ein Ereignis, das Ewigkeiten zurücklag.
»Der Kater, den Frau Okada vermißt«, erklärte Malta Kano.
»Sicher, sicher«, sagte ich.
Malta Kano verstummte an ihrem Ende der Leitung, als versuche sie, sich über etwas schlüssig zu werden. Mein Tonfall hatte sie möglicherweise stutzig gemacht. Ich räusperte mich und nahm den Hörer in die andere Hand. Nach einer kurzen Pause sagte Malta Kano: »Ich muß Ihnen leider sagen, Herr Okada, daß der Kater mit fast völliger Sicherheit unauffindbar bleiben wird. Ich sage es äußerst ungern, aber Sie täten am besten daran, sich mit dem Gedanken abzufinden. Er ist für immer verschwunden. Sofern keine größeren Veränderungen eintreten, wird der Kater nie wieder zurückkehren.«
»Größere Veränderungen?« fragte ich. Aber sie reagierte nicht darauf. Malta Kano blieb lange stumm. Ich wartete darauf, daß sie irgend etwas sagte, aber so angestrengt ich auch lauschte, hörte ich von ihrem Ende der Leitung nicht den leisesten Hauch. Als ich schon zu befürchten begann, mit dem Telefon sei etwas nicht in Ordnung, fing sie wieder an zu sprechen.
»Entschuldigen Sie bitte die Ungehörigkeit meiner Frage, Herr Okada, aber gäbe es, abgesehen vom Kater, nicht noch etwas, wobei ich Ihnen behilflich sein könnte?«
Ich konnte ihr nicht sofort antworten. Den Hörer in der Hand, lehnte ich mich gegen die Wand zurück. Es dauerte etwas, bis die Worte kamen. »Ich sehe immer noch nicht besonders klar«, sagte ich. »Ich weiß nichts mit Bestimmtheit. Ich zermartere mir den Kopf. Aber ich glaube, meine Frau hat mich verlassen.« Ich erklärte ihr, daß Kumiko am vorigen Abend nicht nach Hause gekommen und am Morgen auch nicht in der Redaktion erschienen war.
Sie schien über das Gehörte nachzudenken. »Sie machen sich zweifellos große Sorgen«, sagte sie dann. »Momentan kann ich nichts sagen, aber schon in Kürze müßte die Situation ein wenig klarer werden. Im Augenblick können Sie nichts anderes tun als warten. Es muß schwer für Sie sein, aber alles hat seine Zeit. Wie das Kommen und Gehen der Gezeiten. Daran kann niemand etwas ändern. Wenn es Zeit ist zu warten, muß man warten.«
»Schauen Sie, Fräulein Kano, ich bin Ihnen dankbar für die Mühe, die Sie sich wegen des Katers gemacht haben und so weiter, aber gerade im Augenblick bin ich nicht in der Stimmung für beruhigende Gemeinplätze. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter. Es wird etwas Fürchterliches passieren: Ich spüre das. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, was ich tun soll. Verstehen sie? Ich weiß nicht mal, was ich tun soll, sobald ich aufgelegt habe. Was ich jetzt brauche, sind Fakten. Konkrete Fakten. Sie können von mir aus noch so dumm und belanglos sein, ich bin mit allem zufrieden, was ich in der Hinsicht kriege - drücke ich
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