Mister Aufziehvogel
Ich schloß nicht einmal hinter mir ab. Die Fenster ließ ich offen und das Küchenlicht an. Ich schlenderte durch die Straßen und lutschte an einem Zitronenbonbon. Als ich mir die Worte des jungen Getränkelieferanten noch einmal durch den Kopf gehen ließ, wurde mir allmählich bewußt, daß ich noch ein paar Sachen in der Reinigung am Bahnhof hatte. Kumikos Rock und Bluse. Der Abholschein lag zu Hause, aber wenn ich die Sachen beschrieb, würde sie mir der Mann wahrscheinlich auch so geben. Die Gegend kam mir leicht verändert vor. Die Leute auf der Straße hatten durchweg etwas Unnatürliches, sogar Künstliches an sich. Ich musterte im Vorbeigehen jedes Gesicht und fragte mich, was das für Menschen sein mochten. In was für Häusern wohnten sie? Hatten sie Familie, und wenn, was für eine? Was für ein Leben führten sie? Schliefen sie mit anderen Frauen als ihren eigenen oder anderen Männern als ihren eigenen? Waren sie glücklich? War ihnen bewußt, wie unnatürlich und künstlich sie aussahen?
Vor der Reinigung waren die Spuren des Unfalls noch deutlich zu sehen: auf dem Pflaster die Kreideumrisse, nicht weit davon entfernt ein paar Passanten, die stehengeblieben waren und mit ernsten Mienen über den Unfall diskutierten. Im Geschäft selbst sah es wie immer aus. Derselbe schwarze Radiorecorder spielte dieselbe Art von Musik wie immer, während hinten im Raum eine altmodische Klimaanlage vor sich hinbrummte und vom Bügeleisen Dampfwolken an die Decke stiegen. Das Stück war »Ebb Tide«. Robert Maxwell, Harfe. Das Kommen und Gehen der Gezeiten. Ich dachte, wie wunderschön es wäre, wenn ich ans Meer könnte. Ich stellte mir den Geruch des Strandes vor und das Geräusch der Wellen, die sich am Ufer brachen. Möwen. Eiskaltes Bier aus der Dose. Dem Ladenbesitzer sagte ich lediglich, ich hätte meinen Abholschein vergessen. »Ich bin ziemlich sicher, daß ich die Sachen letzten Freitag oder Samstag vorbeigebracht habe: einen Rock und eine Bluse.«
»Okada … Okada …«, sagte er und blätterte in einem Kollegheft. »Klar, da ist es. Eine Bluse, ein Rock. Aber Frau Okada hat die Sachen schon abgeholt.«
»Abgeholt?« fragte ich verblüfft.
»Gestern früh. Ich erinnere mich genau, wie ich sie ihr gegeben habe. Ich hab mir gedacht, daß sie wohl auf dem Weg zur Arbeit sei. Hatte auch den Abholschein dabei.«
Ich brachte kein Wort heraus. Ich konnte ihn nur anstarren. »Fragen Sie Ihre Frau«, sagte er. »Sie hat die Sachen, Irrtum ausgeschlossen.« Er holte eine Zigarette aus der Schachtel, die auf der Registrierkasse lag, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Feuerzeug an.
»Gestern früh?« fragte ich. »Nicht abends?«
»Ganz sicher früh. Gegen acht. Ihre Frau war der erste Kunde des Tages. So was vergeß ich nicht. He, wenn der allererste Kunde eine junge Frau ist, da kriegt man gleich gute Laune, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich war außerstande, ihm ein Lächeln vorzumachen, und die Stimme, die aus mir herauskam, klang nicht wie meine eigene. »Na ja, damit wär’s dann wohl erledigt. Tut mir leid, ich wußte nicht, daß sie die Sachen schon abgeholt hatte.« Er nickte und warf mir einen kurzen Blick zu, dann drückte er die Zigarette aus, an der er höchstens zwei- oder dreimal gezogen hatte, und kehrte zu seinem Bügelbrett zurück. Ich schien irgendwie sein Interesse geweckt zu haben, als habe er mir etwas erzählen wollen, es sich dann aber doch anders überlegt. Und mir gingen alle möglichen Dinge durch den Kopf, die ich ihn eigentlich hätte fragen wollen. Wie hatte Kumiko ausgesehen, als sie ihre Sachen abgeholt hatte? Was hatte sie bei sich gehabt? Aber ich war durcheinander und furchtbar durstig. Mehr als alles andere wollte ich mich jetzt irgendwo hinsetzen und etwas Kaltes trinken. Sonst, hatte ich das Gefühl, würde ich nie wieder einen klaren Gedanken fassen können.
Von der Reinigung ging ich direkt ins Café nebenan und bestellte ein Glas Eistee. Im Lokal war es kühl, und ich war der einzige Gast. Aus kleinen Wandboxen dudelte eine Orchesterversion des Beatles-Stücks »Eight Days a Week«. Ich dachte wieder ans Meer. Ich stellte mir vor, ich ginge barfuß am Rand des Wassers den Strand entlang. Der Sand war glühend heiß, und der Wind trug den schweren Geruch der Gezeiten heran. Ich atmete tief ein und sah hinauf in den Himmel. Als ich die Hände offen ausstreckte, konnte ich auf den Handflächen die brennende Sommersonne spüren. Bald
Weitere Kostenlose Bücher