Mister Aufziehvogel
bis du rausgekommen bist?«
Sie steckte die Hände in ihre Gesäßtaschen und sah sich amüsiert um. »Also, Mister Aufziehvogel, ich mag einen Haufen Freizeit haben, aber mein Lebenszweck besteht nicht darin, von früh bis spät hier Wache zu halten. Ein paar Dinge habe ich schon noch zu tun. Aber egal, tut mir leid. Haben Sie lang gewartet?«
»Nicht so lang. Mir ist vom Rumstehen heiß geworden.«
May Kasahara sah mir aufmerksam ins Gesicht und runzelte dann leicht die Augenbrauen. »Was ist los, Mister Aufziehvogel? Sie sehen furchtbar aus - wie grad ausgegraben. Sie sollten besser reinkommen und sich ein bißchen im Schatten ausruhen.«
Sie nahm mich bei der Hand und führte mich in ihren Garten. Dort rückte sie einen Liegestuhl in den Schatten und setzte mich darauf. Das dichte grüne Laub warf kühle Schatten, die nach Leben dufteten.
»Keine Angst, es ist wie üblich niemand da«, sagte sie. »Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Lassen Sie sich Zeit. Hören Sie auf zu denken und relaxen Sie.«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte ich. »Schießen Sie los«, sagte sie.
»Ich möchte, daß du für mich jemanden anrufst. An meiner Stelle.« Ich holte Notizblock und Stift heraus und schrieb die Nummer von Kumikos Büro auf. Dann riß ich das Blatt ab und reichte es ihr. Der Vinylumschlag des kleinen Notizblocks war warm und schweißfeucht. »Ich möchte nur, daß du diese Nummer anrufst und fragst, ob Kumiko Okada da ist, und falls sie nicht da ist, ob sie gestern zur Arbeit gekommen ist.«
May Kasahara nahm den Zettel und warf mit geschürzten Lippen einen Blick darauf. Dann sah sie mich an. »Schön, ich kümmer mich drum. Sie machen jetzt einfach Ihren Kopf leer und legen sich flach. Sie rühren sich nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder zurück.«
Sobald sie gegangen war, streckte ich mich wie befohlen aus und schloß die Augen. Ich war von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet. Als ich nachzudenken versuchte, spürte ich ein Pochen tief innen in meinem Kopf, und mir war, als hätte ich ein Knäuel Schnur in der Magengrube. Von Zeit zu Zeit befiel mich eine leichte Übelkeit. Ringsum herrschte völlige Stille. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich seit einer ganzen Weile den Aufziehvogel nicht mehr gehört hatte. Wann hatte ich ihn zum letzten Mal gehört? Wahrscheinlich vor vier oder fünf Tagen. Aber ich war mir nicht sicher. Als es mir endlich aufgefallen war, hatte er schon zu lange nicht mehr geschrien, als daß ich mich hätte erinnern können. Vielleicht war er ein Zugvogel und nur zu einer bestimmten Jahreszeit da. Wenn ich’s mir recht überlegte, hatten wir erst vor einem knappen Monat angefangen, ihn zu hören. Und eine Zeitlang hatte der Aufziehvogel Tag für Tag die Feder unserer kleinen Welt aufgezogen. Das war die Jahreszeit des Aufziehvogels gewesen. Nach zehn Minuten kam May Kasahara zurück. Sie reichte mir ein großes Glas. Als ich es in die Hand nahm, klirrte Eis darin. Das Geräusch schien aus einer fernen Welt zu mir zu dringen. Diese Welt und der Ort, an dem ich mich befand, waren durch mehrere Tore miteinander verbunden, und ich konnte das Geräusch deswegen hören, weil sie im Moment zufällig alle offenstanden, aber nur vorübergehend. Sobald sich auch nur eines von ihnen schlösse, würde das Geräusch meine Ohren nicht mehr erreichen. »Trinken Sie«, sagte sie. »Zitronensaft in Wasser. Damit Sie wieder einen klaren Kopf bekommen.«
Ich schaffte es, die Hälfte zu trinken, und gab ihr dann das Glas zurück. Das kalte Wasser rann durch meine Kehle und drang langsam in meinen Körper, worauf mich eine heftige Welle von Übelkeit überrollte. Der verwesende Schnurballen fing an, sich zu entwirren und meine Speiseröhre hinaufzukriechen. Ich machte die Augen zu und versuchte, es vorübergehen zu lassen. Mit geschlossenen Augen sah ich Kumiko, den Rock und die Bluse in der Hand, in den Zug einsteigen. Ich dachte, es wäre vielleicht besser, mich zu übergeben. Aber ich übergab mich nicht. Ich atmete einige Male tief durch, bis das Gefühl nachließ und schließlich völlig verschwand.
»Alles in Ordnung?« fragte May Kasahara. »Ja, alles okay«, sagte ich.
»Ich hab angerufen«, sagte sie. »Hab denen erzählt, ich wär ne Verwandte. War doch in Ordnung, oder?«
»M-hm.«
»Diese Frau, Kumiko Okada, das ist doch Missis Aufziehvogel, nicht?«
»M-hm.«
»Die haben gesagt, sie ist nicht zur Arbeit gekommen, weder heute noch gestern.
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