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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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und setzte neues Wasser auf, aber es lohnte eigentlich nicht die Mühe. Ich füllte mir eine Tasse mit Leitungswasser und trank statt dessen das. Auf Kaffee hatte ich eigentlich keine rechte Lust mehr.
     
    Ich wartete bis halb zehn, dann rief ich in Kumikos Büro an. Es meldete sich eine Frau.
    »Könnte ich bitte Kumiko Okada sprechen?« fragte ich. »Tut mir leid, aber sie scheint noch nicht dazusein.«
    Ich bedankte mich und legte auf. Dann fing ich an, Hemden zu bügeln, wie ich es immer tat, wenn ich rastlos war. Als mir die Hemden ausgingen, bündelte ich alte Zeitungen und Zeitschriften, wischte die Spüle und die Schrankbretter ab, schrubbte die Toilette und die Badewanne sauber. Ich putzte die Spiegel und die Fensterscheiben mit Glasrein. Ich schraubte die Milchglasschalen der Deckenlampen ab und spülte sie. Ich zog die Laken ab und warf sie in die Waschmaschine, dann bezog ich das Bett neu.
    Um elf rief ich noch einmal in der Redaktion an. Es meldete sich wieder dasselbe Mädchen, und wieder sagte sie mir, Kumiko sei noch nicht gekommen. »Hatte sie sich heute freigenommen?« fragte ich.
    »Nicht, daß ich wüßte«, sagte sie ohne eine Spur von Anteilnahme. Sie gab nur Fakten weiter.
    Wenn Kumiko um elf noch immer nicht zur Arbeit erschienen war, dann stimmte etwas nicht. Die meisten Redaktionen hatten gleitende Arbeitszeit, aber das galt nicht für Kumikos Verlag. Da sie Magazine über Gesundheit und Naturkost herausgaben, hatten die Redakteure dauernd mit Leuten wie Lebensmittelherstellern, Landwirten, Ärzten zu tun - mit Leuten also, die morgens zur Arbeit fuhren und abends wieder nach Hause. Aus Rücksicht ihnen gegenüber kamen Kumiko und ihre Kollegen um Punkt neun in die Redaktion und blieben bis fünf, es sei denn, es gab einen besonderen Grund, Überstunden zu machen. Ich legte auf, ging ins Schlafzimmer und öffnete Kumikos Kleiderschrank. Wenn sie weggelaufen wäre, hätte Kumiko doch wohl ihre Sachen mitgenommen. Ich sah die Kleider und Blusen und Röcke durch, die da hingen. Natürlich kannte ich nicht jedes einzelne Kleidungsstück, das sie besaß - ich kannte nicht einmal jedes einzelne Kleidungsstück, das ich besaß -, aber ich brachte oft ihre Sachen in die Reinigung und holte sie für sie ab, deswegen hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was sie am häufigsten trug und an welchen Sachen ihr am meisten lag, und soweit ich feststellen konnte, fehlte davon so gut wie nichts. Im übrigen hatte sie gar keine Gelegenheit gehabt, allzuviel mitzunehmen. Ich versuchte, mich so genau wie möglich daran zu erinnern, wie sie am vorigen Morgen aus dem Haus gegangen war - was sie angehabt, welche Tasche sie dabeigehabt hatte. Das einzige, was sie mitgenommen hatte, war die Umhängetasche gewesen, die sie immer zur Arbeit mitnahm, vollgestopft mit Notizbüchern und Kosmetikartikeln und ihrer Brieftasche und Stiften und einem Stofftaschentuch und Papiertaschentüchern. Frische Sachen zum Wechseln hätten da nie hineingepaßt.
    Ich sah die Schubladen ihrer Kommode durch. Accessoires, Strümpfe, Sonnenbrillen, Höschen, Baumwollhemdchen: Es war alles da, in säuberlichen Reihen geordnet. Wenn etwas verschwunden war, konnte ich es jedenfalls nicht feststellen. Höschen und Strümpfe hätte sie natürlich in ihrer Umhängetasche unterbringen können, aber wozu? Die hätte sie sich schließlich überall neu kaufen können. Ich ging wieder ins Bad und warf noch einmal einen Blick in ihr Kosmetikschränkchen. Auch da keine sichtbare Veränderung: nur eine unübersichtliche Ansammlung von Töpfchen und Tiegelchen und Kleinkram. Ich schraubte die Flasche Eau de Toilette von Christian Dior auf und schnupperte noch einmal daran. Es roch noch genauso: der frische Duft einer weißen Blume, genau das Richtige für einen Sommermorgen. Wieder mußte ich an Kumikos Ohren und ihren weißen Rücken denken.
    Ich ging ins Wohnzimmer und legte mich aufs Sofa. Ich machte die Augen zu und lauschte. Das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das Geticke, mit dem die Uhr die Zeit abhakte. Weder Verkehrsgeräusche noch Vogelgezwitscher. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ich beschloß, noch einmal in der Redaktion anzurufen, und kam so weit, den Hörer abzunehmen und die ersten paar Ziffern zu wählen, aber die Vorstellung, noch einmal mit diesem Mädchen reden zu müssen, entmutigte mich, und so legte ich wieder auf. Ich konnte nichts mehr tun. Ich konnte nur warten. Vielleicht war es

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