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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Hat sich einfach ohne ein Wort abgesetzt. Jetzt sind die echt am Rotieren. Die meinten, das sähe ihr gar nicht ähnlich, so was zu machen.«
    »Das stimmt. Es sieht ihr gar nicht ähnlich.«
    »Ist sie seit gestern verschwunden?« Ich nickte.
    »Armer Mister Aufziehvogel«, sagte sie. Es klang, als täte ich ihr wirklich leid. Sie legte mir eine Hand auf die Stirn. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
    »Im Augenblick nicht«, sagte ich. »Aber danke.«
    »Stört’s Sie, wenn ich weiterfrage? Oder soll ich lieber nicht?«
    »Frag nur«, sagte ich. »Ich weiß allerdings nicht, ob ich die Antwort weiß.«
    »Ist Ihre Frau mit einem Mann durchgebrannt?«
    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. »Vielleicht. Es ist möglich.«
    »Aber Sie haben doch all die Jahre zusammengelebt. Wie können Sie sich da nicht sicher sein?«
    Sie hatte recht. Wie konnte ich mir da nicht sicher sein?
    »Armer Mister Aufziehvogel«, sagte sie noch einmal. »Ich wollte, ich könnte etwas sagen, was Ihnen hilft, aber ich weiß nichts vom Eheleben.« Ich stand vom Liegestuhl auf. Das Stehen kostete mich weit größere Mühe, als ich erwartet hätte. »Danke für alles. Du bist mir eine große Hilfe gewesen. Jetzt muß ich gehen. Ich sollte zu Hause sein, falls eine Nachricht kommt. Es könnte jemand anrufen.«
    »Sobald Sie zu Hause sind, gehen Sie unter die Dusche. Als allererstes. Okay? Dann ziehen Sie sich saubere Sachen an. Und rasieren sich.«
    »Rasieren?« Ich rieb mir die Kinnlade. Es stimmte: ich hatte vergessen, mich zu rasieren. Ich hatte den ganzen Vormittag nicht daran gedacht. »Die kleinen Dinge zählen, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara und sah mir in die Augen. »Gehen Sie nach Hause und gucken Sie einmal richtig in den Spiegel.«
    »Mach ich«, sagte ich.
    »Was dagegen, wenn ich später vorbeikomme?«
    »Nein«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Ich würd mich freuen.« May Kasahara nickte schweigend.
     
    Zu Hause betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Es stimmte: Ich sah furchtbar aus. Ich zog mich aus, duschte, wusch mir gründlich die Haare, rasierte mich, putzte mir die Zähne, klopfte mir After-Shave auf die Wangen und stellte mich zu einer gründlichen Musterung erneut vor den Spiegel. Ein bißchen besser als vorher, hatte ich den Eindruck. Die Übelkeit war weg. Im Kopf war mir allerdings noch ein bißchen schummrig.
    Ich zog kurze Hosen und ein sauberes Polohemd an. Ich setzte mich auf die Veranda, lehnte mich an einen Pfosten und sah in den Garten, während ich meine Haare trocknen ließ. Ich versuchte, die Ereignisse der letzten Tage in die richtige Ordnung zu bringen. Zuerst einmal war da der Anruf von Leutnant Mamiya. War das gestern früh gewesen? Ja, eindeutig: gestern früh. Dann hatte Kumiko das Haus verlassen. Ich hatte den Reißverschluß ihres Kleides hochgezogen. Dann hatte ich die Schachtel vom Eau de Toilette gefunden. Dann war Leutnant Mamiya gekommen und hatte mir seine seltsamen Kriegsgeschichten erzählt: wie er von Soldaten der Äußeren Mongolei gefangengenommen und in einen Brunnen geworfen worden war. Er hatte mir ein Andenken von Herrn Honda dagelassen. Eine leere Schachtel. Dann war Kumiko nicht wieder nach Hause gekommen. Sie hatte an dem Morgen ihre Sachen von der Reinigung am Bahnhof abgeholt und war anschließend irgendwohin verschwunden. Ohne in der Redaktion ein Wort zu sagen. Das war also gestern passiert.
    Ich konnte kaum glauben, daß all das im Lauf eines einzigen Tages passiert sein sollte. Es war zuviel für einen Tag.
    Wie ich so darüber nachdachte, begann ich, mich unglaublich schläfrig zu fühlen. Das war keine normale Müdigkeit. Es war ein intensives, übermächtiges Schlafbedürfnis. Die Schläfrigkeit war dabei, mich allen Bewußtseins zu entkleiden, so wie man einem widerstandslos Daliegenden die Kleider vom Leib streifen könnte. Ich ging, ohne nachzudenken, ins Schlafzimmer, zog mich bis auf die Unterwäsche aus und legte mich ins Bett. Ich versuchte, einen Blick auf den Wecker zu werfen, aber ich schaffte es nicht einmal, den Kopf zum Nachttisch zu wenden. Ich schloß die Augen und versank augenblicklich in tiefen, bodenlosen Schlaf.
     
    Im Schlaf zog ich Kumikos Reißverschluß hoch. Ich konnte ihren glatten weißen Rücken sehen. Aber als ich den Reißverschluß ganz zugezogen hatte, erkannte ich, daß es nicht Kumiko war, sondern Kreta Kano. Sie und ich waren die einzigen im Raum.
    Es war derselbe Raum wie im letzten Traum: ein Zimmer derselben

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