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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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größte Sorge gewesen. In blinden Schächten zirkuliert die Luft nicht, und auf dem Boden von trockenen Brunnen können sich Giftgase sammeln, die aus der umgebenden Erde heraussickern. Früher hatte ich einmal in der Zeitung von einem Brunnenbauer gelesen, der auf dem Grund eines Brunnens durch Methangas ums Leben gekommen war.
    Aufatmend setzte ich mich, mit dem Rücken an der Wand, auf den Brunnenboden. Ich schloß die Augen und ließ meinem Körper Zeit, sich an die Umgebung zu gewöhnen. Na gut, dachte ich: da wäre ich also auf dem Grund eines Brunnens.

6
    V ERMÄCHTNISSE
    VON QUALLEN
    ETWAS WIE EIN GEFÜHL VON DISTANZ
     
    Ich saß im Dunkeln. Weit über mir schwebte wie ein Zeichen von irgend etwas der vollkommene Halbmond aus Licht, den die Brunnenabdeckung umriß, und dennoch drang von all dem Licht dort oben nicht ein Strahl bis hinunter auf den Grund.
    Mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen etwas mehr an die Dunkelheit. Bald konnte ich ganz schwach die Umrisse meiner Hand erkennen, wenn ich sie mir dicht vors Gesicht hielt. Allmählich begannen auch andere Dinge in meiner Umgebung, ihre jeweilige unbestimmte Gestalt anzunehmen, wie furchtsame Tierchen, die in den kleinsten nur vorstellbaren Schritten aus der Reserve traten. Aber so sehr sich meine Augen auch an sie gewöhnen mochten, hörte die Dunkelheit doch nie auf, Dunkelheit zu sein. Sobald ich etwas zu fixieren versuchte, verlor es seine Bestimmtheit und wühlte sich lautlos in die umgebende Dunkelheit ein. Vielleicht hätte man das hier als »bleiche Dunkelheit« bezeichnen können, aber so bleich sie auch sein mochte, besaß sie doch eine eigene spezifische Dichte, die mitunter eine bedeutsamere Dunkelheit enthielt als wirklich totale Finsternis. In ihr konnte man etwas sehen. Und gleichzeitig sah man überhaupt nichts. Hier in dieser Dunkelheit, die ein so seltsames Gefühl von Bedeutsamkeit vermittelte, gewannen meine Erinnerungen schon bald eine Kraft, die sie noch niemals besessen hatten. Die fragmentarischen Bilder, die sie in mir heraufbeschworen, waren noch in den kleinsten Details von einer so leuchtenden Plastizität, daß ich meinte, sie mit Händen greifen zu können. Ich schloß die Augen und holte die Zeit von vor acht Jahren zurück, als ich Kumiko kennengelernt hatte.
    Es passierte im Wartezimmer der Universitätsklinik in Kanda. Ich mußte damals fast täglich ins Krankenhaus, um mit einem reichen Klienten zu arbeiten, der seinen Nachlaß regeln wollte. Sie kam täglich zwischen den Vorlesungen, um ihre Mutter zu besuchen, die wegen eines Zwölffingerdarmgeschwürs dort lag. Kumiko trug immer Jeans oder einen kurzen Rock und einen Pullover und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Manchmal kam sie mit Mantel, manchmal auch nicht, je nachdem wie das Frühnovemberwetter war. Sie hatte eine Umhängetasche, und unter dem Arm trug sie immer ein paar Bücher, die nach Universität aussahen, sowie einen Skizzenblock.
    An dem Nachmittag, als ich zum allerersten Mal ins Krankenhaus kam, war Kumiko schon da. Sie trug flache schwarze Schuhe und saß, in ein Buch vertieft, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Ich setzte mich ihr gegenüber hin und sah alle fünf Minuten auf meiner Uhr nach, wie lange ich noch zu warten haben würde: Mein Termin mit dem Klienten war aus Gründen, die mir mitzuteilen man nicht für nötig befunden hatte, um anderthalb Stunden verschoben worden. Kumiko hob die Augen kein einziges Mal von ihrem Buch. Sie hatte sehr hübsche Beine. Ihr Anblick hellte meine Stimmung ein wenig auf. Ich ertappte mich dabei, daß ich mich fragte, wie es wohl sein mochte, ein so hübsches (oder zumindest äußerst intelligentes) Gesicht und so tolle Beine zu haben. Nachdem wir uns mehrmals im Warteraum getroffen hatten, begannen Kumiko und ich, gelegentlich ein paar Worte miteinander zu wechseln - etwa, wenn wir Zeitschriften tauschten, die wir ausgelesen hatten, oder Obst aus einem Geschenkkorb aßen, den jemand ihrer Mutter mitgebracht hatte. Wir langweilten uns zu Tode und hatten beide das Bedürfnis, uns mit jemand Gleichaltrigem zu unterhalten.
    Kumiko und ich empfanden gleich von Anfang an etwas füreinander. Es war nicht dieses plötzliche, heftige Gefühl, das zwei Leute schon bei der ersten Begegnung wie ein elektrischer Schlag treffen kann, sondern etwas Ruhigeres und Sanfteres, wie zwei Lichtlein, die nebeneinander durch eine ungeheure Dunkelheit ziehen und sich nach und nach, kaum merklich, immer

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