Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
hast recht«, sagte ich. Sie hatte recht.
    »Ich halt’s im Kopf nicht aus!« sagte May Kasahara. »Übrigens, was wollten Sie eigentlich gestern abend? Sie wollten doch irgendwas von mir, oder?«
    »Ach so, das. Schon gut.«
    »Schon gut?«
    »Ja. Es ist schließlich … schon gut.«
    »Mit anderen Worten, die hat Sie ein bißchen gedrückt, also brauchen Sie mich nicht mehr.«
    »Nein, das ist es nicht. Ich hatte nur den Eindruck -«
    An diesem Punkt hängte May Kasahara ein. Irre. May Kasahara, Malta Kano, Kreta Kano, die Telefonfrau und Kumiko. May Kasahara hatte recht: Ich hatte zur Zeit ein paar Frauen zuviel am Hals. Und jede einzelne von ihnen kam mit ihrem eigenen unergründlichen Problem daher.
    Aber ich war zu müde zum Denken. Ich brauchte etwas Schlaf. Und anschließend würde ich etwas erledigen müssen. Ich legte mich wieder ins Bett und schlief ein.
     
    Als ich wieder aufgewacht war, holte ich den Rucksack aus der Schublade. Das war der, den wir für Erdbeben und andere Notfälle bereithielten, die eine Evakuierung erforderlich machen könnten. Er enthielt eine Wasserflasche, Kräcker, eine Taschenlampe und ein Feuerzeug. Das Ganze war ein Survival-Pack, das Kumiko fertig gekauft hatte, als wir in dieses Haus eingezogen waren: nur für den Fall, daß es einmal zum Großen Knall kommen sollte. Die Wasserflasche war allerdings leer, die Kräcker waren aufgeweicht, und die Batterien der Taschenlampe waren entladen. Ich füllte die Flasche mit Wasser, warf die Kräcker weg und steckte neue Batterien in die Taschenlampe. Dann ging ich zum Eisenwarenladen und besorgte mir eine von diesen Strickleitern, die es als Not-Feuerleiter zu kaufen gibt. Ich überlegte, was ich sonst noch brauchen konnte, aber es fiel mir nichts ein - außer Zitronenbonbons. Ich ging durchs Haus und machte überall die Fenster zu und die Lichter aus. Ich wollte zuerst die Haustür abschließen, aber dann überlegte ich es mir anders. Es konnte mich schließlich jemand suchen kommen, während ich fort war. Kumiko konnte zurückkehren. Und außerdem war nichts da, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Ich ließ einen Zettel auf dem Küchentisch liegen: »Bin für eine Weile weg. Komme wieder. T.«
    Ich fragte mich, wie das für Kumiko wäre, wenn sie diesen Zettel fände. Wie würde sie darauf reagieren? Ich zerknüllte ihn und schrieb einen neuen: »Muß in einer wichtigen Angelegenheit für eine Weile weg. Bin bald zurück. Bitte warten. T.«
    In Khakihose und kurzärmeligem Polohemd und mit dem Rucksack auf dem Rücken stieg ich von der Veranda in den Garten hinunter. Rings um mich her machten sich die unverwechselbaren Anzeichen des Sommers bemerkbar - der Vollversion, ohne jede Einschränkung. Die Glut der Sonne, der Duft der Brise, die Bläue des Himmels, die Gebilde der Wolken, das Zirpen der Zikaden: alles verkündete die waschechte Ankunft des Sommers. Und da war ich, einen Tornister auf dem Rücken, und erklomm die Gartenmauer und sprang auf die Gasse hinunter.
    Einmal, als Junge, war ich an einem schönen Sommermorgen wie diesem von zu Hause weggelaufen. Ich konnte mich nicht erinnern, was mich zu der Entscheidung geführt hatte. Wahrscheinlich war ich sauer auf meine Eltern. Ich verließ das Haus mit einem Rucksack auf dem Rücken und meinen ganzen Ersparnissen in der Tasche. Ich hatte meiner Mutter erzählt, ich würde mit ein paar Freunden eine Wanderung machen, und hatte mir von ihr ein Lunchpaket richten lassen. Gleich hinter unserem Haus gab es gute Hügel zum Wandern, und Halbwüchsige kletterten da oft ohne Aufsicht von Erwachsenen herum. Sobald ich aus dem Haus war, stieg ich in den Bus, den ich mir ausgesucht hatte, und fuhr bis zur Endstation. Für mich war das eine fremde, ferne Stadt. Hier stieg ich in einen anderen Bus um und fuhr damit in eine andere fremde und ferne - noch fernere - Stadt. Ohne auch nur zu wissen, wie die Ortschaft hieß, stieg ich aus dem Bus und schlenderte durch die Straßen. Der Ort hatte nichts Besonderes an sich: Er war ein bißchen belebter als das Viertel, in dem ich wohnte, und ein bißchen mehr heruntergekommen. Es gab eine Einkaufsstraße und einen Pendlerbahnhof und ein paar kleinere Betriebe. Durch den Ort floß ein Flüßchen, und an seinem Ufer stand ein Kino. Eine Anschlagtafel verkündete, daß im Hauptprogramm ein Western lief. Um die Mittagszeit setzte ich mich auf eine Parkbank und aß meine Brote. Ich blieb bis zum frühen Abend in der Stadt, und als die Sonne zu sinken

Weitere Kostenlose Bücher