Mister Aufziehvogel
sind. Sind sie nicht wundervoll?«
»Sicher, schon.« Aber je länger ich mich zwang, mit ihr zusammen Quallen anzustarren, desto deutlicher fühlte ich, wie sich mir die Brust zusammenschnürte. Ehe ich mich versah, hatte ich aufgehört, Kumiko irgendwelche Antworten zu geben, und konzentrierte mich nur noch darauf, das Kleingeld in meiner Tasche zu zählen, immer wieder von vorn, oder wischte mir die Mundwinkel mit dem Taschentuch ab. Ich betete unablässig darum, daß wir das letzte Quallenbecken erreichen möchten, aber die Dinger nahmen einfach kein Ende. Die Vielfalt der Quallen, die die Weltmeere bevölkern, war erdrückend. Ich schaffte es, eine halbe Stunde durchzuhalten, aber die Anspannung weichte mir das Gehirn zunehmend auf. Als es schließlich über meine Kräfte ging, weiter so ans Geländer gelehnt neben Kumiko herumzustehen, entfernte ich mich ein paar Schritte und ließ mich auf eine Bank sacken. Kumiko kam herüber und fragte mich sichtlich besorgt, ob mir schlecht sei. Ich antwortete wahrheitsgemäß, vom Anblick der Quallen werde mir ganz schwindlig.
Sie sah mir mit ernster Miene in die Augen. »Das stimmt«, sagte sie. »Ich kann es an Ihren Augen erkennen, sie sind ganz unscharf geworden. Nicht zu glauben - bloß vom Quallen Ansehen!« Sie nahm mich beim Arm und führte mich aus dem düsteren, klammen Aquarium ans Sonnenlicht.
Wir setzten uns in den angrenzenden Park. Ich atmete langsam und tief durch, und nach zehn Minuten hatte ich es geschafft, in einen normalen psychischen Zustand zurückzukehren. Die kräftige Herbstsonne übergoß alles mit ihren wohltuenden Strahlen, und das knochentrockene Laub der Ginkgo-Bäume raschelte leise auf, sobald sich eine Brise regte. »Wieder alles in Ordnung?« fragte Kumiko, nachdem einige Minuten vergangen waren. »Sie sind schon ein komischer Typ. Wenn Sie Quallen so sehr verabscheuen, warum haben Sie es nicht gleich gesagt, statt zu warten, bis Ihnen schlecht davon wird?«
Der Himmel war hoch und wolkenlos, der Wind tat gut, die Menschen, die ihren Sonntag im Park verbrachten, hatten alle glückliche Gesichter. Ein hübsches, schlankes Mädchen führte einen großen, langhaarigen Hund spazieren. Ein alter Mann mit einem Filzhut sah seiner Enkelin beim Schaukeln zu. Mehrere Paare saßen, wie wir, auf Parkbänken. Irgendwo in der Ferne übte jemand Tonleitern auf dem Saxophon.
»Warum haben Sie eine solche Schwäche für Quallen?« fragte ich. »Ich weiß nicht. Ich finde sie wahrscheinlich nett«, sagte sie. »Aber als ich mich vorhin richtig auf sie konzentriert habe, ist mir etwas aufgegangen. Was wir vor uns sehen, ist nur ein winziger Ausschnitt der Welt. Wir haben uns angewöhnt zu denken, das sei die Welt, aber das stimmt ja überhaupt nicht. Die wirkliche Welt ist weit dunkler und tiefer, und der größte Teil davon ist von Quallen und solchem Getier bevölkert. Diesen ganzen Rest lassen wir einfach unter den Tisch fallen. Ist es nicht so? Zwei Drittel der Erdoberfläche ist Ozean, und mit bloßem Auge können wir davon nur die Oberfläche sehen: die Haut. Von dem, was sich unter der Haut abspielt, wissen wir praktisch nichts.«
Danach machten wir einen langen Spaziergang. Um fünf sagte Kumiko, sie müsse ins Krankenhaus zurück, also begleitete ich sie dorthin. »Danke für den schönen Tag«, sagte sie, als wir uns trennten. In ihrem Lächeln lag ein ruhiges Leuchten, das vorher nicht dagewesen war. Als ich es sah, erkannte ich, daß ich es im Laufe des Tages geschafft hatte, ihr ein bißchen näherzukommen - wofür ich mich zweifellos bei den Quallen bedanken konnte.
Es folgten weitere Verabredungen. Kumikos Mutter wurde aus dem Krankenhaus entlassen, und ich hatte mit meinem Klienten alles besprochen, was für die Abfassung seines Testaments erforderlich war, aber wir trafen uns jetzt regelmäßig einmal die Woche und gingen ins Kino oder in ein Konzert oder machten einen Spaziergang. Bei jeder Begegnung kamen wir uns ein Stückchen näher. Es machte mir Freude, mit ihr zusammenzusein, und wenn wir uns zufällig berührten, verspürte ich ein Flattern in der Brust. Oft fiel es mir schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, wenn das Wochenende heranrückte. Ich war mir sicher, daß Kumiko mich mochte. Schließlich hätte sie sich sonst nicht jedes Wochenende mit mir getroffen.
Trotzdem hatte ich es nicht eilig, meine Beziehung zu Kumiko zu vertiefen. Ich spürte in ihr so etwas wie eine leichte Unsicherheit. Was es genau war, hätte
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