Mister Aufziehvogel
ich nicht sagen können, aber es äußerte sich gelegentlich in dem, was sie sagte oder tat. Ich fragte sie irgend etwas, und bevor sie antwortete, trat eine Pause ein - nur ein winziges Zögern, aber in diesem fast unmerklichen Innehalten spürte ich so etwas wie einen Schatten.
Der Winter kam und dann das neue Jahr. Wir trafen uns weiter regelmäßig jede Woche. Ich fragte sie nach jenem Etwas, und sie sagte nie ein Wort darüber. Wir trafen uns, gingen irgendwo essen und unterhielten uns über harmlose Dinge. Eines Tages faßte ich mir ein Herz und sagte: »Sie müssen einen Freund haben, oder irre ich mich?«
Kumiko sah mich einen Augenblick lang an und fragte: »Wie kommen Sie darauf?«
»Nur so eine Ahnung«, sagte ich. Wir schlenderten durch den winterlich kahlen und verlassenen Kaiserlichen Garten von Shinjuku. »Was für eine Ahnung?«
»Ich weiß nicht. Ich hab irgendwie das Gefühl, daß Sie mir etwas sagen möchten. Wenn’s Ihnen möglich ist, sollten Sie es tun.«
Ihr Ausdruck schwankte minimal - kaum merklich. Sie mochte einen Augenblick der Unsicherheit gehabt haben, aber ihre Entscheidung dann war ganz eindeutig. »Danke, daß Sie danach gefragt haben«, sagte sie, »aber es gibt nichts Bestimmtes, worüber ich unbedingt reden möchte.«
»Meine Frage haben Sie aber noch nicht beantwortet.«
»Ob ich einen Freund habe?«
»M-hm.«
Kumiko blieb stehen. Dann streifte sie sich die Handschuhe ab und steckte sie in ihre Manteltasche. Sie nahm meine unbehandschuhte Hand in ihre. Ihre Hand war warm und weich. Als ich den Druck ihrer Finger erwiderte, hatte ich das Gefühl, ihre Atemzüge würden kleiner und weißer. »Können wir jetzt in deine Wohnung gehen?« fragte sie. »Klar«, sagte ich, etwas überrumpelt. »Die macht allerdings nicht viel her.« Ich wohnte damals in Asagaya, in einem Einzimmerapartment mit einer winzigen Küche und einem Klo und einer Dusche von der Größe einer Telefonzelle. Es lag im ersten Stock und ging nach Süden, mit Blick auf den Lagerhof einer Baufirma. Die Südlage war der einzige Pluspunkt der Wohnung. Lange saßen Kumiko und ich, an die Wand gelehnt, nebeneinander in der Flut von Sonnenlicht. An dem Tag schlief ich zum ersten Mal mit ihr. Ich war sicher, daß sie es gewollt hatte. In gewissem Sinne war sie es, die mich verführte. Nicht, daß sie irgend etwas explizit Verführerisches gesagt oder getan hätte. Aber als ich die Arme um ihren nackten Körper legte, wußte ich ohne jeden Zweifel, daß sie es darauf angelegt hatte. Ihr Körper war weich und bot keinerlei Widerstand. Das war Kumikos erstes sexuelles Erlebnis. Danach sagte sie lange Zeit nichts. Ich versuchte mehrmals, ein Gespräch mit ihr anzufangen, aber sie gab keine Antwort. Sie duschte, zog sich an und setzte sich wieder ins Sonnenlicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. Ich setzte mich einfach zu ihr in die Pfütze aus Sonnenlicht und sagte nichts. Gemeinsam rückten wir periodisch ein Stückchen weiter und folgten der Sonne die Wand entlang. Als es Abend wurde, sagte Kumiko, sie müsse jetzt gehen. Ich begleitete sie nach Hause. »Bist du sicher, daß du mir nicht etwas sagen willst?« fragte ich sie im Zug noch einmal.
Sie schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Gedanken«, murmelte sie. Ich kam nie wieder darauf zu sprechen. Kumiko hatte sich schließlich aus freien Stücken entschieden, mit mir zu schlafen, und wenn sie wirklich etwas mit sich herumtrug, was sie mir nicht sagen konnte, dann würde sich die Sache im Laufe der Zeit wahrscheinlich von selbst erledigen.
Wir trafen uns auch danach jede Woche, und nun machten wir dann in der Regel auch einen Abstecher in meine Wohnung. Wenn wir uns in den Armen hielten und einander berührten, begann sie, mehr und mehr von sich zu erzählen, von den Dingen, die sie erlebt hatte, von den Gedanken und Gefühlen, die diese Erlebnisse in ihr wachgerufen hatten. Und ich begann die Welt, so wie Kumiko sie sah, zu verstehen. Ich merkte auch, daß es mir zunehmend leichter fiel, mit Kumiko über die Welt zu reden, so wie ich sie sah. Ich liebte sie sehr, und sie sagte, sie wolle immer bei mir bleiben. Wir warteten, bis sie ihr Collegestudium abgeschlossen hatte, und dann heirateten wir.
Wir führten eine glückliche Ehe und hatten keine nennenswerten Probleme. Und doch gab es Zeiten, wo ich nicht umhinkonnte zu spüren, daß es in Kumiko einen Bereich gab, zu dem ich keinen Zutritt hatte. Sie konnte beispielsweise mitten im
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