Mister Aufziehvogel
begann, sank auch mein Mut. Das ist deine letzte Chance zurückzugehen, sagte ich mir. Wenn es erst mal ganz dunkel ist, kommst du hier vielleicht nie wieder weg. Ich fuhr mit den gleichen Bussen zurück, die mich dorthin gebracht hatten. Ich war noch vor sieben zu Hause, und niemand bekam mit, daß ich überhaupt weggelaufen war. Meine Eltern hatten die ganze Zeit geglaubt, ich sei mit den anderen Jungen auf den Hügeln.
Ich hatte dieses Erlebnis völlig vergessen. Aber in dem Moment, als ich mich mit einem Rucksack auf dem Rücken an der Mauer hochstemmte, kehrte das Gefühl zurück - die unbeschreibliche Verlassenheit, die ich verspürt hatte, als ich ganz allein inmitten fremder Straßen und fremder Menschen und fremder Häuser gestanden und zugesehen hatte, wie die Nachmittagssonne nach und nach ihre Leuchtkraft verlor. Und dann dachte ich an Kumiko: Kumiko, die irgendwohin verschwunden war und nur ihre Umhängetasche und ihren Rock und ihre Bluse von der Reinigung mitgenommen hatte. Sie hatte ihre letzte Chance zurückzukehren verpaßt. Und jetzt stand sie wahrscheinlich irgendwo ganz allein, an irgendeinem fremden, fernen Ort. Ich konnte es kaum ertragen, sie mir so vorzustellen.
Aber nein, sie konnte unmöglich allein sein. Sie mußte mit einem Mann zusammensein. Anders ergab das überhaupt keinen Sinn. Ich hörte auf, an Kumiko zu denken.
Ich ging die Gasse entlang.
Das Gras hatte das lebendige, atmende Grün, das es während der Frühlingsregen zu haben schien, verloren und besaß jetzt das charakteristische, stumpfe Aussehen von Sommergras. Wie ich so entlangging, hüpfte aus diesen Grasbüscheln ab und zu ein grünes Heupferdchen hervor. Gelegentlich sprang sogar ein Frosch aus dem Weg. Die Gasse war zum Reich dieser kleinen Geschöpfe geworden, und ich war nichts als ein Eindringling, der daherkam, die herrschende Ordnung zu stören.
Als ich das leerstehende Haus der Miyawakis erreicht hatte, öffnete ich das Tor und trat ohne zu zögern ein. Ich watete durch das hohe Gras bis zur Mitte des Gartens, am schäbigen steinernen Vogel vorbei, der wie immer in den Himmel starrte, und bog dann schnell um die Ecke des Hauses: Ich hoffte, daß May Kasahara mich nicht hatte hereinkommen sehen.
Als ich den Brunnen erreichte, nahm ich zunächst die Steine herunter, mit denen die Abdeckung beschwert war, und entfernte dann einen der zwei hölzernen Halbkreise. Um sicherzugehen, daß noch immer kein Wasser darin war, warf ich, wie schon einmal, einen Kiesel hinein. Wie damals schlug der Kieselstein mit einem trockenen Geräusch auf dem Grund auf. Kein Wasser. Ich setzte den Rucksack ab, holte die Strickleiter heraus und band das eine Ende an den Stamm des Baumes, der neben dem Brunnen stand. Ich zog daran, so fest ich konnte, um mich zu vergewissern, daß sie halten würde. Bei so etwas konnte man nicht vorsichtig genug sein. Wenn sich der Knoten durch irgendeinen Zufall lockerte oder löste, würde ich wahrscheinlich nie wieder herauskommen. Beide Arme voll Seil, fing ich an, die Strickleiter in den Brunnen hinabzulassen. Das ganze lange Ding ging hinein, ohne daß ich es unten den Boden berühren fühlte. Die Strickleiter konnte unmöglich zu kurz sein: ich hatte die längste gekauft, die sie überhaupt herstellten. Aber es war ein tiefer Brunnen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe senkrecht hinein, aber ich konnte nicht erkennen, ob die Leiter den Grund erreicht hatte. Die Lichtstrahlen drangen nur bis zu einem bestimmten Punkt vor und wurden dann von der Dunkelheit verschluckt. Ich setzte mich auf den Rand der Brunneneinfassung und lauschte. Ein paar Zikaden schrien in den Bäumen, als wetteiferten sie darin, wer die lauteste Stimme oder das größte Lungenvolumen habe. Vögel konnte ich jedoch keine hören. Ich dachte mit einiger Zuneigung an den Aufziehvogel zurück. Vielleicht hatte er keine Lust gehabt, mit den Zikaden in Wettstreit zu treten, und hatte sich deswegen an einen anderen Ort begeben.
Ich drehte meine Handflächen nach oben, der Sonne entgegen. Augenblicklich spürte ich die Wärme, als dringe mir das Licht in die Haut, als sickere es regelrecht in die Linien meiner Fingerabdrücke. Hier draußen herrschte das Licht unumschränkt. In Licht getaucht, glühte jeder Gegenstand in der leuchtenden Farbe des Sommers. Selbst Immateriellem, wie Zeit und Gedächtnis, wurde das gütige Sommerlicht zuteil. Ich steckte mir ein Zitronenbonbon in den Mund und blieb da sitzen, bis das Zuckerzeug sich
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