Mister Aufziehvogel
näher kommen. Als wir uns häufiger zu sehen begannen, hatte ich weniger das Gefühl, jemand Neues kennengelernt zu haben, als vielmehr einem lieben alten Freund zufällig wiederbegegnet zu sein. Bald waren mir die kurzen, zerstückelten Unterhaltungen, die wir im Krankenhaus zwischen allerlei anderen Dingen unterbrachten, nicht mehr genug. Ich wünschte, ich könnte mich mit ihr in einer anderen Umgebung treffen, irgendwo, wo wir zur Abwechslung einmal wirklich würden miteinander reden können. Schließlich beschloß ich eines Tages, sie um ein Rendezvous zu bitten. »Ich glaube, wir könnten beide eine Luftveränderung gebrauchen«, sagte ich. »Warum verschwinden wir hier nicht einfach und gehen irgendwohin, wo es weder Patienten noch Klienten gibt?«
Kumiko dachte kurz darüber nach und sagte dann: »Ins Aquarium?« Und so fand unser erstes Rendezvous im Aquarium statt. Kumiko brachte ihrer Mutter an jenem Sonntagvormittag frische Sachen ins Krankenhaus und holte mich anschließend im Wartezimmer ab. Es war ein warmer, heiterer Tag, und Kumiko trug ein schlichtes weißes Kleid und darüber eine blaßblaue Strickjacke. Schon damals fiel mir immer auf, wie gut sie sich anzog. Sie konnte in das unscheinbarste Kleidungsstück schlüpfen und es mit den einfachsten Mitteln - indem sie die Ärmel ein wenig aufrollte oder den Kragen ein wenig anders legte - in etwas Atemberaubendes verwandeln. Sie hatte da eine besondere Begabung. Und ich sah, daß sie ihre Garderobe mit einer Aufmerksamkeit behandelte, die fast an Liebe grenzte. Jedesmal, wenn ich mit ihr zusammen war und neben ihr herging, ertappte ich mich dabei, daß ich voll Bewunderung auf ihre Kleidung starrte. Ihre Blusen waren nie im mindesten zerknittert, die Falten ihrer Röcke hingen vollendet ebenmäßig herab. Alles Weiße, was sie trug, sah blütenfrisch aus. Ihre Schuhe waren niemals verdellt oder staubig. Wenn ich sah, was sie trug, konnte ich mir leicht vorstellen, daß ihre Blusen und Pullover säuberlich zusammengefaltet und aufgereiht in den Schubladen ihrer Kommode lagen, ihre Röcke und Kleider in Zellophan verpackt im Schrank hingen. (Und wie ich nach unserer Heirat feststellen konnte, verhielt es sich tatsächlich so.)
Diesen ersten gemeinsamen Nachmittag verbrachten wir im Aquarium des Zoos von Ueno. Das Wetter war so schön, daß ich dachte, es könnte vielleicht mehr Spaß machen, durch den Zoo selbst zu schlendern, und als wir im Zug nach Ueno saßen, schlug ich das Kumiko auch vor, aber sie hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, ins Aquarium zu gehen. Nun, wenn sie das wollte, dann sollte es mir recht sein. Im Aquarium gab es eine besondere Quallenausstellung, und wir sahen sie uns von Anfang bis Ende an und bewunderten die seltenen Exemplare, die da aus allen Teilen der Welt zusammengetragen worden waren. Zitternd schwebten sie durch ihre Becken - von fingerspitzengroßen Wattebäuschchen bis hin zu Monstern von einem Meter Durchmesser. Für einen Sonntag war das Aquarium nicht gerade überlaufen, ja, es war dort eigentlich leer. An so einem herrlichen Tag wären jedem Giraffen und Elefanten lieber gewesen als Quallen.
Ich sagte Kumiko zwar nichts davon, aber ich konnte Quallen auf den Tod nicht ausstehen. Als Junge war ich beim Schwimmen im Ozean häufig von Quallen verbrannt worden. Einmal war ich allein weit hinausgeschwommen und war in einen ganzen Schwarm hineingeraten. Ehe ich begriff, was ich da gemacht hatte, war ich umzingelt. Das schleimige, kalte Gefühl der Tiere an meiner Haut habe ich nie wieder vergessen. Im Zentrum dieses Strudels von Quallen überfiel mich ein unfaßliches Entsetzen, als sei ich in bodenlose Finsternis hinabgezerrt worden. Aus irgendeinem Grund wurde ich nicht verbrannt, aber in meiner Panik verschluckte ich eine ganze Menge Salzwasser. Und das erklärt, warum ich die Quallenausstellung nach Möglichkeit lieber übersprungen und mir statt dessen irgendwelche normalen Fische angeschaut hätte, wie Makrelen oder Schollen. Kumiko dagegen war völlig fasziniert. Sie blieb vor jedem einzelnen Becken stehen, lehnte sich über das Geländer und rührte sich nicht mehr von der Stelle, als habe sie das Phänomen Zeit aus ihrem Bewußtsein getilgt. »Sehen Sie sich die hier an«, sagte sie dann zu mir. »Ich hatte gar nicht gewußt, daß es so leuchtend pinkfarbige Quallen gibt. Und sehen Sie doch, wie anmutig sie schwimmen. Sie wabbeln einfach immer so weiter, bis sie durch jeden Ozean der Welt gekommen
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