Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Geschäfte hatten geschlossen, aber genau das wollten wir. Wir taten nichts anderes als laufen, jeden Tag, von morgens bis abends.
     
    Kumiko brauchte volle anderthalb Tage, bis sie ihre Gefühle herauslassen konnte. Und als es soweit war, saß sie fast zwei Stunden lang weinend im Hotelzimmer. Ich sagte die ganze Zeit über nichts, hielt sie nur in den Armen und ließ sie weinen. Dann endlich fing sie an zu erzählen, nach und nach, fragmentweise. Von der Abtreibung. Wie sie sich dabei gefühlt hatte. Von ihrem extremen Gefühl von Verlust. Wie allein sie sich gefühlt hatte, während ich auf Hokkaido gewesen war - und daß sie das, was sie getan hatte, nur habe tun können, während sie sich so allein fühlte.
    »Und versteh mich nicht falsch«, sagte sie am Ende. »Ich bereue nicht, was ich getan habe. Es war die einzige Möglichkeit. Das ist mir absolut klar. Aber was wirklich weh tut, ist, daß ich dir alles erzählen möchte - restlos alles - und nicht kann. Ich kann’s einfach nicht. Ich kann dir nicht genau erklären, wie ich empfinde.« Kumiko strich ihr Haar hoch, so daß ein kleines, wohlgeformtes Ohr sichtbar wurde, und schüttelte leicht den Kopf.
    »Es ist nicht so, daß ich es dir verheimlichen möchte. Ich hab durchaus vor, es dir irgendwann zu erzählen. Du bist der einzige Mensch, dem ich es überhaupt erzählen kann. Aber jetzt geht es einfach nicht. Ich kann’s nicht in Worte fassen.«
    »Etwas von früher?«
    »Nein, das ist es nicht.«
    »Laß dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagte ich. »Bis du bereit bist. Zeit ist so ziemlich das einzige, wovon wir jede Menge haben. Ich werd hier bei dir sein. Es hat gar keine Eile. Ich möchte nur, daß du eins nie vergißt: Was immer in dir ist - was es auch sei, solang es nur dir gehört - werde ich als meins akzeptieren. Das ist etwas, worüber du dir niemals Sorgen zu machen brauchst.«
    »Ich dank dir«, sagte sie. »Ich bin so froh, daß ich dich geheiratet habe.« Aber wir hatten nicht so viel Zeit, wie ich geglaubt hatte. Was genau hatte Kumiko nur nicht in Worte fassen können? Hatte es etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Wenn ich damals versucht hätte, es aus ihr herauszuholen, dann hätte ich sie vielleicht nicht verloren. Aber nein, schloß ich, nachdem ich darüber nachgegrübelt hatte: Ich hätte sie niemals dazu zwingen können. Sie hatte gesagt, sie könne es nicht in Worte fassen. Was immer es war, es war über ihre Kräfte gegangen.
    »He, da unten! Mister Aufziehvogel!« brüllte May Kasahara. Aus meinem leichten Schlaf heraus meinte ich, eine Stimme im Traum zu hören. Aber es war kein Traum. Als ich aufsah, war da May Kasaharas Gesicht, klein und fern. »Ich weiß, daß Sie da unten sind! Na los, Mister Aufziehvogel! Antworten Sie!«
    »Ich bin hier«, sagte ich.
    »Warum in aller Welt? Was treiben Sie da unten?«
    »Nachdenken«, sagte ich.
    »Kapier ich nicht. Warum müssen Sie in einen Brunnen steigen, um nachzudenken? Das muß doch wahnsinnig Scheiße sein!«
    »So kann man sich richtig konzentrieren. Es ist dunkel und kühl und still.«
    »Machen Sie so was häufig?«
    »Nein, nicht häufig. Ich hab’s noch nie gemacht - so in einen Brunnen zu steigen.«
    »Und, funktioniert’s? Hilft’s Ihnen beim Nachdenken?«
    »Ich weiß noch nicht. Ich bin noch am Experimentieren.« Sie räusperte sich. Das Geräusch hallte laut bis zum Grund des Brunnens herab. »Ach übrigens, Mister Aufziehvogel, ist Ihnen aufgefallen, daß die Leiter weg ist?«
    »Na klar«, sagte ich. »Schon vor einem Weilchen.«
    »Wußten Sie, daß ich es war, die sie raufgezogen hat?«
    »Nein, das wußte ich nicht.«
    »Na, was haben Sie denn geglaubt, wer’s getan hat?«
    »Ich hatte keine Ahnung«, sagte ich aufrichtig. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber auf den Gedanken war ich eigentlich überhaupt nicht gekommen - daß jemand sie weggenommen haben könnte. Um ehrlich zu sein, dachte ich, sie sei einfach verschwunden.«
    May Kasahara verstummte. Dann sagte sie mit einem lauernden Unterton, als glaube sie, meine Worte enthielten etwas wie eine Falle: »Einfach verschwunden. Hmm. Was meinen Sie mit ›einfach verschwunden‹? Daß sie ganz von selbst … einfach so … verschwunden wär?«
    »Vielleicht, ja.«
    »Wissen Sie was, Mister Aufziehvogel, das ist vielleicht ein komischer Augenblick, um damit anzufangen, aber Sie sind schon ganz schön verrückt. Es gibt nicht allzuviele Leute in der Gegend, die so verrückt sind wie Sie. Wußten

Weitere Kostenlose Bücher