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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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kümmerlicher Gesteinsbrocken, der in einer kleinen Ecke des Weltalls dahintrieb: ein zeitweiliger Boden-unter-den-Füßen in der ungeheuren Leere des Raums. Sie konnte schon morgen - und wir alle mit ihr - durch ein augenblickhaftes Aufblitzen von irgend etwas oder durch eine geringfügige Verschiebung im Energiezustand des Universums fortgeblasen werden. Unter diesem atemberaubenden Himmel voller Sterne traf mich die Ungewißheit meiner eigenen Existenz mit der Gewalt eines Rammbocks (obwohl ich es natürlich nicht so formulierte). Für einen Jungen war das eine überwältigende Entdeckung.
    Vom Grund eines Brunnens aus zu den Sternen der Frühe emporzublicken war eine eigentümliche Erfahrung, ganz anders als der Anblick des vollbesternten Himmels vom Gipfel eines Berges aus: als ob mein Geist - mein Ich - mein ganzes Sein - durch mein enges Fenster mit jedem einzelnen dieser Sterne dort oben am Himmel unauflöslich verbunden sei. Ich empfand ihnen gegenüber innige Vertrautheit: Das waren meine Sterne, für niemanden sichtbar außer mir, hier unten im dunklen Brunnen. Ich nahm sie als mein eigen an, und sie überschütteten mich ihrerseits mit Energie und Wärme.
    Wie die Zeit weiterrückte und der Himmel zunehmend unter die Gewalt der hellen Sommermorgensonne geriet, tilgten sich die Sterne einer nach dem anderen langsam aus meinem Gesichtsfeld. Sie gingen dabei äußerst behutsam vor, und ich verfolgte diesen Tilgungsprozeß aufmerksam, mit weit offenen Augen. Die Sommersonne löschte jedoch nicht jeden Stern vom Himmel; einige der stärksten blieben zurück. Wie hoch die Sonne auch stieg, sie harrten hartnäckig aus und weigerten sich zu verschwinden. Das freute mich sehr: Abgesehen von einer gelegentlich vorüberziehenden Wolke waren die Sterne die einzigen Objekte, die ich von da unten aus sehen konnte.
    Ich hatte im Schlaf geschwitzt, und jetzt erkaltete der Schweiß allmählich und ließ mich frösteln. Ich schauderte mehrmals. Der Schweiß rief mir dieses stockdunkle Hotelzimmer und die Telefonfrau ins Gedächtnis zurück. In meinen Ohren hallten noch die Worte, die sie gesprochen hatte - jedes einzelne von ihnen -, und das Geräusch des Anklopfens. In meiner Nase hielt sich noch der seltsam schwere Blumenduft. Und noch immer redete Noboru Wataya hinter seiner Fernsehmattscheibe. Diese Eindrücke dauerten trotz der inzwischen verflossenen Zeit unvermindert fort. Und das lag daran, daß es kein Traum gewesen war, wie mir meine Erinnerung sagte.
    Selbst als ich vollends wach war, spürte ich an meiner rechten Wange noch eine intensive Wärme. Darein mischte sich jetzt auch ein leichter Schmerz, als sei meine Haut mit grobem Sandpapier aufgeschürft worden. Ich preßte die Hand auf die Stelle, doch das linderte weder die Hitze noch den Schmerz. Auf dem Grund des dunklen Brunnens, ohne einen Spiegel, war es mir unmöglich zu ermitteln, was mit meiner Wange los war.
    Ich streckte die Hand aus und berührte die Wand, tastete ihre Oberfläche mit den Fingerspitzen ab und preßte dann eine Zeitlang die offene Hand dagegen, aber ich fand nichts Auffälliges: Es war eine ganz gewöhnliche Betonwand. Ich ballte die Hand und klopfte ein paarmal dagegen; die Wand war hart, ausdruckslos und leicht feucht. Ich hatte noch immer eine deutliche Erinnerung an das seltsame, glitschige Gefühl, das ich verspürt hatte, als ich durch sie hindurchgegangen war - als schiebe man sich durch eine Masse von Gelatine.
    Ich tastete im Rucksack nach der Feldflasche und trank einen Schluck Wasser. Ich hatte jetzt einen ganzen Tag lang nichts gegessen. Allein bei diesem Gedanken überfiel mich quälender Hunger, aber schon bald begann er in stumpfer Empfindungslosigkeit zu versickern und verschwand allmählich ganz. Ich führte wieder die Hand an mein Gesicht und versuchte, die Länge meiner Bartstoppeln abzuschätzen. Meine Kinnlade war mit einem Eintagsbart bedeckt. Kein Zweifel: Es war ein ganzer Tag vergangen. Aber meine eintägige Abwesenheit wirkte sich wahrscheinlich auf niemanden aus; vermutlich hatte kein Mensch bemerkt, daß ich fort war. Ich konnte vom Antlitz der Erde verschwinden, und die Erde würde ich weiterdrehen, ohne auch nur zu zucken. Alles war furchtbar kompliziert, gewiß, doch eines war klar: niemand brauchte mich.
    Wieder hob ich den Kopf und sah zu den Sternen empor. Nach und nach beruhigte ihr Anblick mein pochendes Herz. Dann fiel mir ein, die Wand nach der Leiter abzutasten. Da, wo sie hätte sein sollen,

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