Mister Aufziehvogel
Sie das?«
»Ich find mich nicht so verrückt«, sagte ich.
»Wie kommen Sie dann darauf, daß Leitern einfach verschwinden können?«
Ich rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht und versuchte, meine ganze Aufmerksamkeit auf diese Unterhaltung mit May Kasahara zu konzentrieren.
» Du hast sie hochgezogen, stimmt’s?«
»Natürlich. Es gehört nicht besonders viel Gehirnschmalz dazu, sich das auszurechnen. Ich war’s. Ich hab mich nachts hier rausgeschlichen und hab die Leiter hochgezogen.«
»Aber warum?«
»Warum nicht? Haben Sie eine Ahnung, wie viele Male ich gestern zu Ihrem Haus gepilgert bin? Ich wollte, daß Sie wieder mit mir arbeiten gehen. Sie waren natürlich nicht da. Dann hab ich Ihren Zettel in der Küche gefunden. Also hab ich mich hingesetzt und gewartet, richtig lange, aber Sie sind nicht aufgetaucht. Da hab ich mir dann gedacht, Sie könnten vielleicht wieder beim verlassenen Haus sein. Ich bin also hin, und der Brunnen war halb aufgedeckt, und die Leiter hing da runter. Trotzdem bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, daß Sie da unten sein könnten. Ich dachte bloß, irgendein Arbeiter oder sonstwer war dagewesen und hätte seine Leiter dagelassen. Ich meine, wie viele Leute setzen sich schon auf den Grund eines Brunnens, wenn sie nachdenken wollen?«
»Da ist was dran«, sagte ich.
»Jedenfalls, da hab ich mich also nachts rausgeschlichen und bin zu Ihrem Haus gegangen, aber Sie waren immer noch nicht da. Na, und da ist mir der Geistesblitz gekommen. Daß Sie vielleicht unten im Brunnen sein könnten. Nicht, daß ich die leiseste Ahnung gehabt hätte, was Sie da unten treiben sollten, aber wie gesagt, Sie sind schließlich ziemlich verrückt. Ich bin zum Brunnen und hab die Leiter hochgezogen. Ich wette, da ha’m Se das Muffensausen gekriegt.«
»Ja, da hast du recht.«
»Haben Sie da unten irgendwas zu essen oder zu trinken?«
»Ein bißchen Wasser. Zu essen habe ich nichts mitgenommen. Drei Zitronenbonbons hab ich allerdings.«
»Wie lang sind Sie schon da unten?«
»Seit gestern - seit dem späten Vormittag.«
»Sie müssen hungrig sein.«
»Ich denk schon.«
»Müssen Sie nicht pinkeln oder so?«
Jetzt, wo sie davon redete, wurde mir bewußt, daß ich, seit ich hier heruntergestiegen war, nicht ein Mal gepinkelt hatte. »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich eß und trink zur Zeit nicht viel.«
»Wissen Sie was, Mister Aufziehvogel? Ich könnte Sie da unten sterben lassen, wenn mir danach wäre. Ich bin der einzige Mensch, der weiß, daß Sie da unten sind, und ich bin diejenige, die die Strickleiter versteckt hat. Ist Ihnen das klar? Wenn ich jetzt einfach gehen würde, würden Sie als Leiche enden. Sie könnten schreien, aber niemand würde Sie hören. Niemand käme auf die Idee, daß Sie auf dem Grund des Brunnens sind. Ich wette, es würd keinem auffallen, daß Sie überhaupt weg sind. Sie haben keine Kollegen, die Sie vermissen würden, und Ihre Frau ist durchgebrannt. Früher oder später würd jemand wohl schon merken, daß Sie verschwunden sind, und Sie bei der Polizei als vermißt melden, aber bis dahin wären Sie tot, und man würde Ihre Leiche niemals finden.«
»Du hast bestimmt recht. Wenn dir danach wäre, könntest du mich hier unten sterben lassen.«
»Und, was ist das für ein Gefühl?«
»Ein erschreckendes«, sagte ich. »Sie klingen nicht erschrocken.«
Ich rieb mir noch immer die Wangen. Das hier waren meine Hände und meine Wangen. Ich konnte sie im Dunkeln nicht sehen, aber sie waren noch da: Mein Körper existierte noch. »Das liegt daran, daß mir das noch nicht richtig zu Bewußtsein gekommen ist«, sagte ich.
»Na, also mir schon«, sagte May Kasahara. »Ich wette, es ist ein ganzes Stück einfacher, jemand umzubringen, als die Leute glauben.«
»Hängt wahrscheinlich von der Methode ab.«
»Es wär so einfach! Ich bräuchte Sie einfach nur hier sitzenzulassen. Ich bräuchte gar nichts zu tun. Denken Sie mal drüber nach, Mister Aufziehvogel. Stellen Sie sich nur vor, wie sehr Sie leiden würden, so stückchenweise zu sterben, an Hunger und Durst, da unten im Dunkeln. Es wär kein leichter Tod.«
»Da hast du bestimmt recht«, sagte ich.
»Sie glauben mir noch nicht so richtig, was, Mister Aufziehvogel? Sie trauen mir nicht zu, daß ich etwas so Grausames tun würde.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich. »Es ist nicht so, daß ich es dir zutrauen oder daß ich es dir nicht zutrauen würde. Es kann alles passieren. Die
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