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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Möglichkeit besteht - das glaube ich.«
    »Ich rede nicht von Möglichkeit«, sagte sie mit der kältesten Stimme, die man sich vorstellen kann. »He, ich hab eine Idee. Ist mir grad eben eingefallen. Sie haben sich doch die Mühe gemacht, da runterzuklettern, um in Ruhe nachdenken zu können. Wie wär’s, wenn ich dafür sorgen würde, daß Sie sich noch besser auf Ihre Gedanken konzentrieren können?«
    »Wie denn?« fragte ich.
    »Wie? Na, so«, sagte sie und legte die fehlende Hälfte der Brunnenabdeckung zurück. Jetzt war die Dunkelheit vollkommen.

10
    M AY KASAHARA ÜBER TOD UND EVOLUTION
    WAS WOANDERSHER STAMMT
     
    Ich kauerte in vollkommener Dunkelheit. Ich sah nichts anderes als Nichts. Und ich war Teil dieses Nichts. Ich schloß die Augen und lauschte dem Geräusch meines Herzens, dem Geräusch des Blutes, das durch meinen Körper kreiste, den blasebalgartigen Kontraktionen meiner Lungen, dem Geschiebe und Gewoge meiner ausgehungerten Eingeweide. In der tiefen Dunkelheit vergrößerte sich jede Bewegung, jedes Pochen ins Gigantische. Das war mein Körper: mein Fleisch. Aber hier in der Dunkelheit war er befremdlich grob und materiell. Bald stahl sich mein Bewußtsein aus meinem materiellen Körper. Ich sah mich als den Aufziehvogel, der durch den Sommerhimmel flog, sich irgendwo auf dem Ast eines riesigen Baumes niederließ, die Feder der Welt aufzog. Wenn es wirklich keinen Aufziehvogel mehr gab, würde jemand anders seine Pflichten übernehmen müssen. Irgend jemand würde an seiner Stelle die Feder der Welt aufziehen müssen; andernfalls würde die Feder ablaufen und der fein abgestimmte Mechanismus zum Stillstand kommen. Der einzige allerdings, dem aufgefallen zu sein schien, daß der Aufziehvogel verschwunden war, war ich. Ich gab mir die größte Mühe, aus dem Rachen heraus den Ruf des Aufziehvogels nachzuahmen. Es klappte nicht. Ich brachte nur ein sinnloses, häßliches Geräusch zustande, wie von zwei sinnlosen, häßlichen Dingen, die sich aneinander reiben. Nur der echte Aufziehvogel konnte das richtige Geräusch produzieren. Nur der Aufziehvogel konnte die Feder der Welt so aufziehen, wie es sich gehörte.
    Dennoch beschloß ich, als ein stimmloser Aufziehvogel, der die Feder der Welt nicht aufzuziehen verstand, durch den Sommerhimmel zu fliegen - was sich als ziemlich einfach erwies. War man erst einmal oben, brauchte man nur mit den Flügeln im richtigen Winkel zu schlagen, um Richtung und Höhe zu korrigieren. Mein Körper eignete sich die Kunst im Nu an und trug mich mühelos im Fluge, wohin ich immer wollte. Ich betrachtete die Welt aus der Warte des Aufziehvogels. Sobald ich genug vom Fliegen hatte, ging ich auf einen Ast nieder und spähte durch das grüne Laub auf Dächer und Straßen hinab. Ich beobachtete, wie Menschen sich über den Erdboden bewegten und den Geschäften des Lebens nachgingen. Leider konnte ich allerdings meinen eigenen Körper nicht sehen. Das lag daran, daß ich den Aufziehvogel noch nie gesehen hatte und nicht wußte, wie er aussah.
    Lange Zeit - wie lang wohl? - blieb ich der Aufziehvogel. Aber der Aufziehvogel zu sein brachte mich keinen Schritt weiter. Die Fliegerei machte natürlich Spaß, aber ich konnte nicht ewig nur Spaß haben. Ich hatte noch etwas zu erledigen hier unten, in der Dunkelheit auf dem Grund des Brunnens. Ich hörte auf, der Aufziehvogel zu sein, und wurde wieder ich.
     
    Ihren zweiten Besuch stattete mir May Kasahara kurz nach drei ab. Als sie den Brunnen halb aufdeckte, ergoß sich von oben eine Flut von Licht herein - der blendende Glanz eines Sommertages. Um meine mittlerweile an völlige Finsternis gewöhnten Augen zu schützen, schloß ich die Lider und hielt den Kopf für eine Weile gesenkt. Beim bloßen Gedanken an Licht tränten mir die Augen. »Hallo da unten, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. »Leben Sie noch? Mister Aufziehvogel? Antworten Sie, wenn Sie noch am Leben sind.«
    »Ich bin am Leben«, sagte ich. »Sie müssen hungrig sein.«
    »Ich denke schon.«
    »Immer noch bloß ›ich denke schon‹? Dann dauert’s wohl noch ne Weile, bis Sie verhungert sind. Verhungernde sterben nicht so leicht, solang sie Wasser haben.«
    »Das stimmt wahrscheinlich«, sagte ich, und die Unsicherheit in meiner Stimme hallte im Brunnen wider. Der Hall verstärkte wahrscheinlich jede noch so leise Regung, die in der Stimme mitschwang.
    »Ich weiß, daß es stimmt«, sagte May Kasahara. »Ich hab heute morgen ein bißchen in der

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